Kolumne Fernsehen: Die Kill-your-Darling-Situation
Unser Autor stellt fest, dass es auch politisch wertvolle Castingshows gibt. Bei "X Factor" ist musikalisches Talent keine Frage der Kleidergröße.
V orgestern erst wieder. Ich war zum Videoabend bei meinem besten Freund eingeladen und bin eingenickt - immerhin erst beim zweiten Film! -, was weder an ihm lag noch am Film. Es liegt an mir, ist genetisch. Meine Mutter hat das auch. Sobald die bunten Bilder vor unseren Augen zu tanzen beginnen, sind wir häufig schneller weg, als man … Sehen Sie, so schnell geht das. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass meine Mutter keinen Kinofilm in Gänze gesehen hat. Andere gehen zum Lachen in den Keller, sie geht zum Schlafen ins Kino. Manchmal wissen wir beide hinterher nur grob, worum es ging.
Ich wünschte, ich könnte was dagegen tun - aber auch am Mittwoch war ich chancenlos. Selbst auf einem Nagelbrett sitzend wären mir wohl immer wieder die Augen zugefallen, als zöge jemand Rollläden runter, hoch, runter, nur um mich zu ärgern.
Hinlegen ist vor diesem Hintergrund fahrlässig, denn in dieser Position nicke ich erst recht weg. Am Sonntagabend bin ich bei "Zimmer frei" eingeschlafen und um kurz vor eins wieder aufgewacht. Anstatt gleich ins Bett zu wanken, habe ich noch mal gezappt und bin bei der Wiederholung der Vox-Castingshow "X Factor" hängen geblieben. Sie dauerte bis kurz vor drei. Ich bin nicht wieder eingeschlafen.
ist leitender Medienredakteur der taz.
Schon die erste Staffel habe ich verfolgt - nicht regelmäßig, aber immer wieder. Auf Anhieb gefiel mir, dass die Juroren - in der aktuellen Staffel Sängerin Sarah Connor, Jazztrompeter Till Brönner und Rapper Das Bo - nach der Castingphase zu Mentoren werden, die nicht nur den Daumen heben oder senken, sondern glaubhaft an einem Erfolg ihrer sechs, später drei Schützlinge interessiert sind und mit ihnen an ihrer Performance feilen. Da am Ende aber nur ein Plattenvertrag zu vergeben ist, kommt es zwangsläufig zu Kill-your-Darling-Situationen - eine in dem Genre einzigartige dramatische Zuspitzung.
Zudem ist es "X Factor" hoch anzurechnen, dass auch Talente über 25 und Normalgewicht eine Chance bekommen. So schaffte es etwa die Girlgroup Big Soul bis in die letzte Runde der ersten Staffel. Vor einem Millionenpublikum haben die vier Frauen stimmkräftig bewiesen, dass musikalisches Talent keine Frage der Kleidergröße ist. Für eine Castingshow ist das ein fast unerhört politisches Statement.
Dass auch die spätere Siegerin Edita Abdieski in den Charts nicht an ihren Erfolg aus der Sendung anknüpfen konnte, schmälert meine Begeisterung nicht. "X Factor" ist eine Fernsehsendung, die für sich selbst funktionieren muss. Was danach geschieht oder auch nicht, ist eine andere Sache. Und ist es nicht irgendwie beruhigend, dass Erfolg nur begrenzt planbar ist? Genauso beruhigend wie die Tatsache, dass ich manchmal vor dem Fernseher auch wachbleibe.
"Vielen Dank, dass ich bei dir schlafen durfte", habe ich zu meinem besten Freund gesagt, als ich am Mittwoch gegen Mitternacht schlaftrunken aus seiner Wohnung torkelte. Ein hilfloser Witz. Der Freund kennt meine Bildschirmnarkolepsie schon und amüsiert sich drüber - solange ich nicht schnarche. Zum Schluss eine gute Nachricht: Im Auto auf der Fahrt nach Hause bin ich nicht eingeschlafen.
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