Kolumne Die eine Frage: Der Herr der Zeit ist sterblich
Sollte man die Zeit vergessen, Giovanni di Lorenzo? Ein Gespräch in der Sommerlounge mit dem Chefredakteur der Zeit.
M ach doch was zu unserem Pfingstthema, sagte meine Redakteurin Annabelle. Es gehe um Entschleunigung. Nieder mit dem Zeit-Diktat.
Und schon sitze ich in der Sommerlounge des Regent Hotels in Berlin. Halbsonne. Espresso. Nachmittagsklaviermusik. „Sollte man die Zeit vergessen, Giovanni di Lorenzo?“
Der Chefredakteur der Zeit überlegt. „Die Frage klingt so negativ, als müsste ich mich für die Zerstörung der Zeit (oder der Zeit?, Anm. des Autors) ins Zeug legen, was ich nicht möchte“, sagt er dann freundlich. „Zerstört das das Konzept Ihrer Kolumne?“
Der Autor ist Chefreporter der taz. Er twittert als @peterunfried. Seine Kolumne „Die eine Frage“ erscheint alle 14 Tage in der sonntaz. Die neue taz.am wochenende ist am Kiosk, e-Kiosk und im Wochenendabo erhältlich. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz
„Überhaupt nicht.“ Total.
Diese Kolumne finden Sie auch in der taz. am wochenende vom 18./19./20 Mai 2013. Darin außerdem das sonntaz-Spezial: Vergessen Sie die Zeit! Mit einer Reportage über das Warten im Altersheim, einem Gespräch mit dem Zeitforscher Karlheinz Geißler - und mit Rapper Samy Deluxe und Familienministerin Kristina Schröder zur Frage: Wann haben Sie das Warten einmal genossen? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im Wochenendabo.
Aber di Lorenzo ist offenbar ein kompromissbereiter Mann. „Wenn man darunter Pflicht und Zwänge versteht, dann ist es wichtig, dass man die Zeit vergessen kann.“ Schweigen beiderseits. Schließlich sagt er: „Erwarten Sie ein längeres Statement?“
Nein, sage ich. Aber die Idee, die Zeit zu vergessen, weil alles so schlimm ist, behagt mir nicht. Ich überlege neuerdings, ob es nicht umgekehrt ist, wir uns endlich um die Zeit kümmern sollten. Er nickt. „Wenn man es schafft, wirklich bewusst mit der Zeit umzugehen, dann ist man endlich erwachsen und relativ frei.“ Leider sei es eine der Tragödien der menschlichen Natur, dass man das Stadium meist erreiche, wenn man gar nicht mehr unter Druck stehe.
„Wissen Sie, was der erste große Realitätsschock eines Lebens ist?“, fragt er leise. Er spricht überhaupt sehr leise. „Gerade denkt man noch, man sei unsterblich, und innerhalb von Tagen merkt man plötzlich, dass die wahre Frage ist, was man mit der Zeit macht, die man noch zur Verfügung hat.“ Den Schock hatten Sie schon? „Ich habe das mit 30 sehr bewusst erlebt.“ Jetzt ist er 54. Heinrich Böll brachte ihn drauf, dass es im Leben um Zeithaben geht.
Nun zur Kernfrage, dem Geheimnis seines Erfolgs: Welches Verhältnis zur Zeit und zum Zeitgefühl der Leute muss man haben, um erfolgreich zu sein wie die Wochenzeitung Die Zeit? Oder etwas neidisch-unsachlich gefragt: Ist die Zeit die politische Landlust?
Den Vergleich brächten interessanterweise viele Journalisten, sagt er. Und zählt die „großen Differenzen“ auf, die ja evident sind. „Aber es gibt eine Gemeinsamkeit, und das ist das Fehlen von Zynismus.“
Die Leser gäben der Zeit einen „institutionellen Rang“. Nachgefragt werde: Verlässlichkeit, Tiefe, politisch zu sein, aber nicht parteipolitisch. Und: Die Hoffnung darauf, etwas mitnehmen zu können. Das Leseerlebnis beschrieben Leser so: „Ich kann abtauchen, ich bin weg.“ Also schon auch Entschleunigung. „Die Leute geben so viel Geld aus wie nie zuvor, wenn sie uns kaufen. Sie opfern uns das Kostbarste, das sie haben - ihre Zeit. Da reicht es nicht, wenn Sie als Leitmotiv haben: Alles ist schlecht.“
Geht das jetzt gegen die taz?
„Nein, überhaupt nicht. Ich sage nur, es gibt Leseerlebnisse durchgängiger Art, bei denen der Nichtprofi die Bettdecke über den Kopf ziehen möchte.“ Er spricht von dem Bedürfnis nach einer Schneise angesichts des Gefühls, von Nachrichten und ihrem Sound erschlagen zu werden. Ex-Bild-Chef Udo Röbel nennt das den „täglichen Scheißhaufen“. „Das ist nicht Zeit-like, aber plastisch“, sagt di Lorenzo. Er nimmt die Sonnenbrille aus dem Kragen, zieht den Pullover aus.
„Wenn die tägliche Informationsdröhnung der Fluss ist“, sagt er, „dann müssen wir das Ufer sein.“ Leider ist er wahnsinnig eng getaktet und hat jetzt keine Zeit mehr.
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