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Kolumne Die ChartsDanke, Rot-Grün, für Mesut Özil!

Peter Unfried
Kolumne
von Peter Unfried

Die Charts heute mit Özil, Cohn-Bendit, Sweet, Lückemeier und Thomas Pynchon.

F ußball: Nach dem 2:0 über Südafrika ist die Begeisterung unserer wichtigsten Fußballmenschen über den deutschen Nationalspieler Mesut Özil (Werder Bremen) flächendeckend. Die Allianz reicht von Beckenbauer ("Der Junge kann Fußball spielen") über Ballack bis zu Daniel Cohn-Bendit. Allerdings steht für den Chef der Grünen im EU-Parlament nicht im Vordergrund, dass Deutschland "endlich" wieder einen "Künstler" (FAZ) und einen "Zehner" (SZ u. v. a.) hat sowie neue Systemoptionen über das 4-4-2 hinaus. Cohn-Bendit begeistert etwas anderes. "Den Özil hat Deutschland Rot-Grün zu verdanken", sagt er.

Für Nachgeborene: Eine rot-grüne Regierung (1998-2005) hatte seinerzeit das Gesetz erlassen, nachdem in Deutschland geborene Ausländerkinder zusätzlich und befristet die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, um sich zwischen 18 und 23 für eine der beiden Staatsbürgerschaften entscheiden zu können und müssen. Mesut Özil ist der Enkel eines nach Deutschland eingewanderten Türken, also dritte Generation. Er wurde 1988 in Gelsenkirchen geboren und ist dort aufgewachsen. Er legte nach Angaben des DFB 2007 die türkische Staatsbürgerschaft ab und entschied sich zudem Anfang diesen Jahres endgültig für die deutsche Fußballnationalmannschaft. Für Cohn-Bendit entspricht es "der Realität des Fußballs", wenn Einwandererkinder - wie in Frankreich - nicht nur auf den Fußballplätzen der Städte, sondern auch im Nationalteam den Ton angeben.

Nun sind andere türkischstämmige Immigranten wie die etwas älteren Brüder Altintop auch (in Gelsenkirchen) mit doppelter Staatsbürgerschaft aufgewachsen. Die hatten sich noch für die türkische Nationalmannschaft entschieden. "Erst hat Rot-Grün das ermöglicht, und dann braucht das Zeit", sagt Cohn-Bendit. "In 20 Jahren sieht das noch ganz anders aus."

Bild: marco limberg

Peter Unfried ist Chefreporter der taz.

Der Fußballexperte hatte schon zu Zeiten des deutschen Niedergangs in den 90ern darauf hingewiesen, dass wegen verfehlter Einwanderungspolitik einige der größten Talente in Deutschland nicht für die Nationalmannschaft in Frage kommen. Und er hat stets darauf gesetzt, dass der erste türkisch-deutsche Nationalmannschaftsheld eine neue Brücke zwischen den Parallelgesellschaften und -kulturen schlagen wird.

Dazu müsste Özil allerdings bei der WM und darüber hinaus Stammspieler im DFB-Team sein. Ob er das schafft, wird man auch nach dem WM-Qualifikationsspiel am Mittwoch gegen Aserbaidschan noch nicht sagen können. Aber zunächst, sagt Cohn-Bendit, gelte folgende Logik: "Wenn heute ganz Deutschland vor Özil kniet, so heißt das, dass ganz Deutschland vor Rot-Grün kniet." Da solle Roland Koch mal drüber nachdenken.

Die Charts im September:

Konzert: The Sweet an einem Strand in Kalifornien. Sie sagten: "Thank you". Es klang wie: "Fuck you." Aber dann kamen echte Klassiker solide runtergeschrubbt. "Action", "Fox on the Run". U. v. a. Schön. Wer über altgewordene Pophelden höhnt, soll sich mal selbst anschauen. Kolumne: Peter Lückemeier schrieb von 1993 bis letzten Sonntag die "Herzblatt"-Kolumne in der FAS. Nun hat er damit aufgehört. Sehr schade.

Literatur: Los-Angeles-Privatdetektiv Doc Sportello aus Thomas Pynchons kalifornischem Post-Hippie-Roman "Inherent Vice" dürfte die literarische Figur des Jahres sein. Sagt ein Chick: "Ask you something, Doc?" Antwortet Doc: "Long as it aint the capital of South Dakota, sure." Gegen Doc ist selbst The Big Lebowski ein Anfängerdude. Wer hätte gedacht, dass Pynchon im letzten Versuch so ein Ding raushaut? Ganz große Unterhaltungskunst.

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Peter Unfried
Chefreporter der taz
Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried
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