Kolumne Das Tuch: Mein Kopf gehört mir
Ich trage ein Kopftuch – und muss deswegen von niemandem gerettet werden. Das glauben aber viele. Warum eigentlich?
I ch war vierzehn Jahre alt, als mich eine Frau in der U-Bahn fragte: "Warum trägst du das Kopftuch?" "Weil ich will", antwortete ich, woraufhin sie "Willst du nicht!" zurückschrie. Und ich hörte nur noch die Worte: Afghanistan, Gewalt an Frauen, Unterdrückung, Zwangsehen, Ehrenmorde - das volle Programm eben. Seitdem gibt es solche Szenen immer wieder.
Nein, ich möchte deshalb nicht bemitleidet werden oder gar in die ach so beliebte Opferrolle. Ich schreibe dies, weil ich das Gegenteil will: als freies, selbstständiges und mündiges Individuum wahrgenommen werden. Doch genau das wird kopftuchtragenden Musliminnen verwehrt.
Die Frauen unter Kopftüchern werden auf unterdrückte Wesen der patriarchalischen Gesellschaft und Opfer des männlichen Triebs reduziert. Drängt sich denn niemandem der Verdacht auf, dass es Musliminnen geben könnte, die freiwillig, aus religiösen Gründen, ein Kopftuch tragen?
Kübra Yücel
Klar. Darüber, ob das Kopftuch religiöse Pflicht ist, wird viel diskutiert. Jede Muslimin kommt an den Punkt, an dem sie diese Frage für sich klärt - und sich für oder gegen das Tuch entscheidet. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass der Quran und die Sunnah des Propheten relativ eindeutig sind in dieser Frage. Für mich ist das Kopftuch eine religiöse Pflicht.
Ein Gebot sollte jedoch nicht allein deshalb befolgt werden, weil es ein Gebot ist. Jeder Muslim ist angehalten zu verstehen, welchen Grund verschiedene Gebote haben könnten. So hat jede Kopftuchträgerin ihre eigenen, individuellen Motive. Ich zum Beispiel fühle mich mit dem Kopftuch Gott näher und erinnere mich täglich der islamischen Spiritualität. Außerdem bekenne ich mich gerne öffentlich zu meiner Religion, die mich sehr geprägt hat und noch immer prägt. Das Kopftuch ist Teil meiner Identität.
Für andere Musliminnen kann das Kopftuchtragen natürlich andere Gründe haben - wie das Schutzbedürfnis oder das vielkritisierte Verhüllen vor männlichen Blicken. Oder auch nichtreligiöse Gründe wie Ausdruck der Weiblichkeit und gesellschaftlich-familiärer Druck.
Der große Kritiker-Fehler: Aus den zahlreichen Gründen suchen sie sich einen Grund aus, auf den sie dann ihre gesamte Argumentation stützen. Ja, es gibt patriarchalische Kulturkreise, in denen das Kopftuch und die Frau von Männern als Aushängeschild der familiären Ehre missbraucht werden. Leider.
Deshalb können muslimische Communitys dafür kritisiert werden, diese Traditionen noch immer nicht effektiv bekämpft zu haben. Doch daraus ein generell islamisches Problem zu machen, wird der Realität nicht gerecht und ist unfair gegenüber all jenen Frauen, die sich freiwillig für das Kopftuch entschieden haben und nun durch das Klischee zu Unterdrückten stilisiert werden.
Daher: Nein danke. Ich renne nicht, einem Huhn ohne Kopf gleichend, blind durch die Gegend, um die unterdrückenden Traditionen der Großeltern zu verteidigen. Ich bin unabhängig, habe meinen eigenen Willen. Ich bin frei. Und deshalb: Bitte befreit jemand anderen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was