Kolumne Blind mit Kind: Das Bilderbuch-Problem
Meine Schrift, deine Schrift. Was die blinde Mutter vorliest, mag die sehende Tochter nicht immer hören. Bücher für beide gibt es kaum.
![Die kleine Raupe Nimmersatt Die kleine Raupe Nimmersatt](https://taz.de/picture/3401814/14/blind_mit_kind6480939.jpeg)
M ama Muh feiert Weihnachten“, und das bei uns zu Hause, jeden zweiten Abend, seit knapp anderthalb Jahren. Zwischendurch frisst sich die mittlerweile langweilige „Raupe Nimmersatt“ durch gut tastbare Leckereien. „Henriette Bimmelbahn“ begleiten wir nur noch notgedrungen und im Eiltempo auf ihrer Fahrt durch ein (mit Bildbeschreibungen versehenes) Bilderbuch.
Langweilig – das kennen wir und unsere 4-jährige Tochter schon alles! Also ab in den Laden und neue Lektüre besorgen? Gute Idee, aber für mich nicht leicht umzusetzen: Verglichen mit ihren „normalen“ Schwarzschriftpendants sind Bilderbücher mit „Mamas Schrift“, also Braille, Raritäten, die ihren Preis haben.
Taktile Bilderbücher gibt es – in erheblich geringerer Vielfalt als in Schwarzschrift – aber sie sind ihrer Natur nach Bücher für blinde Kinder. Das heißt sie bergen zwei Nachteile für blinde Eltern.
Schön, bunt, taktil – und teuer
Erstens: Sie haben aus gegebenem Anlass keine schönen, bunten Bilder und sind daher für sehende Kinder nicht ganz der Hit. Zweitens: Weil sie sich an Leseanfänger*innen richten, sind sie in der Braille-Vollschrift geschrieben und rauben geübten Kurzschriftleser*innen gern mal den letzten Nerv. In der Vollschrift wird das Schwarzschriftalphabet nämlich im Wesentlichen Zeichen für Zeichen umgesetzt, in der Kurzschrift werden gängige Wörter, Silben oder Wortstämme effektiv gekürzt, Letzteres spart nicht nur Platz, sondern hat auch deutlichen Einfluss auf die Tast- und damit Lesegeschwindigkeit!
Eine erlesene Auswahl inklusiver Kinderbücher, die Problem Nummer eins lösen, gibt es online zu erwerben: schöne, bunte, taktile Bilder mit Text in Punkt- und Schwarzschrift – für 60 Euro aufwärts (und das ist übrigens auch schon gleich Problem Nummer drei). Um Problem zwei kümmert sich gerade ein Projekt extra für blinde Eltern und erstellt Kurzschriftumsetzungen und Bildbeschreibungen „normaler“ Kinderbücher. Also heißt es für mich: auf neue Modelle warten – und Geld sparen!
Mich macht das wehmütig – Lesen war immer mein größtes Hobby. Ich möchte meiner Tochter alles vorlesen. Sie nimmt derweil einfach, was sie kriegen kann, lässt sich gern Geschichten erzählen und alles, was Mama nicht lesen kann, eben von Oma vortragen. Für die Problematik sensibilisiert ist sie durchaus: Wenn sie „meine Schrift“ auf Medikamentenpackungen oder am Fahrstuhl entdeckt, ist sie hellauf begeistert und lässt mich alles vorlesen.
Ob sie die Punkte auch mal lernen will? „Nein, ich habe ja meine Schrift!“, sagt sie, und es klingt, als wäre es irgendwie cool, wenn jeder „seine Schrift“ hätte. Bis sie ihre allerdings beherrscht, werden uns „Pupsi und Stinki“ und die japanischen Märchen, die mir meine Freundin – ihres Zeichens Blindenpädagogin – gerade erst umgesetzt hat, noch eine Weile begleiten.
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