Kolumne Aufm Platz: Spielt Brasilien profan?

Die Selecao ist eher mittelmäßig ins Turnier gestartet. Dem Team fehlt die gewohnte Ästhetik, weil es sich am europäischen Spitzenfußball orientiert.

Gegen Mexiko war es offensichtlich: Brasilien arbeitet auf dem Platz nicht nur mit Disziplin, sondern auch mit Härte und mit taktischen Fouls. Bild: dpa

Denken wir an Brasilien, fühlen wir das „Beautiful Team“. Das ist nicht nur der Kosename der Weltmeisterelf von 1970 mit Pelé, Gérson und Tostão. Er steht dafür, dass Brasilien den Fußball auf ästhetische Höhen geführt haben soll wie kein Team sonst. Auch wenn kaum einer von uns das 4:1 im Finale gegen Italien gesehen hat, sind wir geprägt von der kollektiven Erinnerung eines wahr gewordenen Traums vom Fußball. Ästhetik schlägt Taktik, ja zertrümmert sie.

Und nun passiert das Gleiche wie bei jeder WM seither mit der socratischen Ausnahme von 1982: Brasilien spielt – und es deckt sich nicht mit den überschwelgenden Gefühlen. Schlimmer: Brasilien agiert scheinbar profan, arbeitet nicht nur mit Disziplin, sondern mit Härte und mit taktischen Fouls. Da kann man nur sagen: Ja, das tun sie. Nur, dass es nicht Profanität ist, sondern Modernität.

Der wunderbare Fußball von Sócrates, Zico und Falcão zerbrach 1982 an der italienischen Realität. Das ist das eine. Das andere ist die Europäisierung des Fußballs, die unmittelbar nach 1970 sichtbar wurde und sich heute in einem Fußballstil manifestiert, den die Champions League vorgibt. 1994 hatte Brasilien verstanden und schlug Italien im WM-Finale durch das unschönere Spiel, also Effizienz. Sein Gesicht war Carlos Dunga, der Stuttgarter Facharbeiter.

Wenn also Brasilien in gut drei Wochen Weltmeister sein sollte, dann nicht, weil sie Brasilianer sind, auch nicht wegen Neymar, sondern weil sie den europäisierten Spitzenfußball am besten beherrschen. „Europäischer geht’s nicht“, sagt der DFB-Chefanalytiker Urs Siegenthaler. Brasilien 2014 ist geprägt von defensiver Struktur und Mentalität. Mit Thiago Silva und David Luiz (beidfüßig) hat man die beste Innenverteidigung und mit Dani Alves und Marcelo auch die beste Außenverteidigung, wenn die beiden diszipliniert bleiben.

Luiz Gustavo kann man wegen seiner Fernseh-Unauffälligkeit leicht unterschätzen. Er ist die Personifikation dieses Brasiliens: ein Wolfsburger! Schnörkel- und geniefrei, leichtfüßig und hart arbeitend, technisch begabt, aber nur einfache Bälle spielend, schnell, sehr zweikampfstark. Sehr hart. Mit der Kompetenz, die entscheidenden taktischen Fouls zu begehen.

Denn: Ist der Gegner so sortiert wie Mexiko, hilft auch der brasilianischste Pass nicht. Die WM entscheidet sich womöglich in dem Moment, in dem ein Referee Luiz Gustavo beim zweiten oder dritten taktischen Foul vom Platz stellt. Oder eben nicht. Das klingt jetzt nicht nach 1970, aber das liegt daran, dass wir 2014 haben.

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Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried

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