Kolummne Wir retten die Welt: Willkommen im Entwicklungsland

Auch Deutschland ist unterentwickelt, sagt die Regierung. Das stimmt schon lange. Man muss nur genau hinschauen, dann wird man fündig.

Vier Dosen mit den Aufschriften „Food“, „Bier“, „Drogen“ und „Plattentiere“, stehen nebeneinander auf dem Boden

Deutschland, einig Entwicklungsland Foto: dpa

Ich hatte gestern keine frischen Socken in der Fußballtasche“, klagt Sohn Nummer 2. „Die Kartoffeln in der Linsensuppe haben zu lange gekocht“, mäkelt meine Tochter. „Das WLAN spinnt schon wieder“, schreit Sohn Nummer 1 aus seinem Zimmer. „Ihr mit euren First-World-Problems“, sage ich.

Und habe mal wieder Unrecht. Nicht, weil die Sorgen meiner Familie wirklich schwer wiegen. Sondern weil wir nicht mehr Erste Welt sind. Seit dieser Woche sind wir ganz offi­ziell Entwicklungsland. Die Bundesregierung will nämlich die „Nachhaltigen Entwicklungszielen“ (SDG) der UNO umsetzen. Schluss mit den „entwickelten“ reichen Ländern und den „unterentwickelten“ armen. Auf dem Weg zu einer zukunftsfähigen Wirtschaft sind wir alle blutige Anfänger.

Und was heißt Entwicklungsland Germany? Dass sinnlose Großprojekte Milliarden verschlingen? Dass Binnenflüchtlinge Mecklenburg entvölkern? Dass sich volkswageneigene Betriebe einen Dieseldreck um Recht und Gesetze scheren? Unvorstellbar eigentlich. Aber zum Glück hat die UNO ihre SDG mit 17 Zielen definiert.

Wo stehen wir da?

Keine Armut. In unserer S-Bahn-Station schlafen im Winter zwei Obdachlose.

Null Hunger. 1,5 Millionen Menschen in Deutschland leben von gespendeten Lebensmitteln der „Tafeln“, doppelt so viel wir vor zehn Jahren.

Gute Gesundheit. JedeR Dritte hier hat Übergewicht.

Gute Ausbildung. Die Schulen meiner Kinder suchen händeringend Lehrer und Lehrerinnen. Dauernd fällt Unterricht aus.

Gleichberechtigung. Frauen verdienen bei gleicher Arbeit 7 Prozent weniger als Männer.

Sauberes Wasser. Bingo! Können Sie überall aus der Leitung trinken. Ein Viertel des Grundwassers ist allerdings mit Nitrat aus der Landwirtschaft vergiftet.

Bezahlbare saubere Energie. Gut: 32 Prozent Grünstrom. Jedes Jahr werden allerdings über 300.000 Haushalte wegen unbezahlter Rechnungen vom Strom abgeklemmt.

Gute Arbeit und Wirtschaftswachstum. So viele Menschen wie lange nicht haben Arbeit. Aber 2,4 Millionen brauchen noch einen Zweitjob, um über die Runden zu kommen.

Industrie, Innovation, Infrastruktur. Ziemlich marode. Kein Wunder: Wir investieren jährlich 80 Milliarden Euro weniger als nötig.

Weniger Ungleichheit. Stagniert auf hohem Niveau. Kevin aus Marzahn studiert seltener und heiratet bestimmt nicht Zahnarzttochter Lisa aus Zehlendorf.

Nachhaltige Städte. Die Luft in manchen Städten ist wegen Feinstaubs so dreckig, dass die EU uns deshalb mit Klage droht.

Verantwortlicher Konsum und Produktion. VW, Opel und Fiat produzieren weiter. Kunden kaufen weiter fröhlich Diesel. VW entschädigt keine Deutschen. Der Politik ist das schnurz.

Klimaschutz. Auch nicht schlecht. Aber Kohleausstieg trauen wir uns trotzdem nicht.

Leben unter Wasser, an Land.Mehr als 500 deutsche Tier- und Pflanzenarten sind ausgestorben, 5.700 davon bedroht.

Starke Institutionen. Der DFB ist der größte Fußballverband der Welt.

Finanzierung von Entwicklungshilfe. Statt versprochener 0,7 Prozent der Wirtschaftsleistung zahlen wir nur etwa 0,4 Prozent.

Warum auch? Wir sind jetzt ja ebenfalls ein Entwicklungsland.

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Jahrgang 1965. Seine Schwerpunkte sind die Themen Klima, Energie und Umweltpolitik. Wenn die Zeit es erlaubt, beschäftigt er sich noch mit Kirche, Kindern und Konsum. Für die taz arbeitet er seit 1993, zwischendurch und frei u.a. auch für DIE ZEIT, WOZ, GEO, New Scientist. Autor einiger Bücher, Zum Beispiel „Tatort Klimawandel“ (oekom Verlag) und „Stromwende“(Westend-Verlag, mit Peter Unfried und Hannes Koch).

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