Koalitionsvertrag in Schleswig-Holstein: Schwarz-Grün prüft erst mal
Die neue Landesregierung in Kiel hat sich viel vorgenommen. Aber zur ersten Sitzung des neuen Landtags gibt es auch Kritik am Koalitionsvertrag.
Aber was genau bedeuten diese Visionen, und lassen sie sich umsetzen? Die Opposition, aber auch zahlreiche Interessengruppen im Land, haben Zweifel. Ausgeräumt wurden die bei der ersten Sitzung des neuen Landtags nicht.
Von „Wohlfühlpopulismus“ hatte Oppositionsführer und SPD-Fraktionschef Thomas Losse-Müller bereits kurz nach der Vorstellung des Koalitionsvertrags gesprochen, im Landtag erklärte er, was er damit meinte: Die Ideen klängen gut, aber „vieles, was Sie vorschlagen, ist nicht finanzierbar“, sagte er in Richtung der Regierungsbank, auf der Ministerpräsident Daniel Günther krankheitsbedingt fehlte. „Sie kündigen an, aber Sie machen nicht.“
Für die Grünen wies der neue Fraktionsvorsitzende Lasse Petersdotter die Kritik zurück: Die SPD habe nur Minuten gebraucht, um nach der Veröffentlichung des Koalitionsvertrages eine erste Meldung loszuschicken. „Da sind Sie offenbar mit der Suchfunktion über den Text und haben einzelne Punkte herausgepickt, statt zu lesen.“ Vor dem Land läge eine „Herkulesaufgabe, die den Fleiß eines Sisyphos braucht“. Der Vertrag als Grundlage dafür sei von vielen Beteiligten ausführlich und solide verhandelt worden.
Regierungserklärung erst nach der Sommerpause
Aber beim Lesen des Dokuments fällt ein Wort besonders auf: „prüfen“. Auf 123 der 244 Seiten findet sich der Begriff, er sei geradezu das „Lieblingswort“ der Schwarz-Grünen, findet Christoph Vogt, Fraktionschef der FDP, die bis zur Wahl mit CDU und Grünen eine Jamaika-Koalition bildete.
Vogt vermisst eine Regierungserklärung, die Günther erst nach der Sommerpause halten will. „Erst dachte ich, das sei die ‚Arroganz der Macht‘ der neuen grünen Groko“, sagte Vogt. „Nachdem ich mich durch den Koalitionsvertrag gequält habe, glaube ich, dass die Regierung ihr Arbeitsprogramm durchaus erst mal sortieren muss.“ Denn trotz aller Ausführlichkeit bliebe der Vertrag „bei den wichtigen Themen oft seltsam vage“.
Das sehen auch Interessengruppen so, etwa die Wohlfahrtsverbände: „Anstatt auf gefühlt jeder zweiten Seite den Begriff der Inklusion zu streuen, wäre es überzeugender gewesen, an konkreten Stellen diesen Begriff mit Inhalt zu füllen“, so Michael Saitner, aktuell Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft. Er hofft auf baldige Gespräche, die mehr Antworten bringen: „Politik ist, wenn’s konkret wird.“
Gemecker kommt auch vom ADFC, der trotz aller Bekenntnisse zu Bus, Bahn und Rad keinen „Fahrplan für die Mobilitätswende“ erkennen kann: „Wichtige Aspekte werden angesprochen, aber bei der Umsetzung bleibt es an vielen Stellen noch sehr unkonkret“, sagt Jan Voß, Landesgeschäftsführer des Fahrrad-Clubs. So fehlten relevante Kennzahlen zu Personal, Fördermitteln oder Zeitplänen: „Es bleiben viele Fragezeichen.“
In dieselbe Kerbe schlägt der Verkehrsclub VCD. Trotz guter Impulse gebe es auch „Bekenntnisse zum Bau neuer Autobahnen wie der A20, die kein Stück dabei helfen, die Klimaziele zu erreichen“, sagt VCD-Vorstandsmitglied Maik Kristen. „Es fehlt offensichtlich an einer Vision, wie moderne Mobilitätspolitik in Schleswig-Holstein aussehen kann.“
Nicole Knudsen vom Verein pflegender Angehöriger fürchtet, dass „ausgerechnet die Pflege keinen Stellenwert in der neuen Landesregierung hat“. Denn durch die Aufteilung der Bereiche Soziales und Gesundheit, die dem Justizministerium zugeschlagen wird, sei künftig die „fachliche Auseinandersetzung mit dem Thema nicht mehr gewährleistet“.
Lars Harms von der Minderheitenpartei SSW stellt sich an vielen Punkten die Frage, was bei manchen Sätzen gemeint sei: „Das wissen wir ja nicht, wir waren bei den Verhandlungen nicht dabei.“
Klimaneutrales Industrieland
Einen dieser Punkte beleuchtete Tobias Koch, Fraktionschef der CDU. Das „erste klimaneutrale Industrieland“ will Schleswig-Holstein werden – das meint aus Sicht der CDU, zunächst einmal mehr Betriebe in die Region zu holen. „Wir brauchen beides: einen ambitionierten Ausbau der erneuerbaren Energien und gleichzeitig eine Ansiedlungsstrategie, um Schleswig-Holstein zum Industrieland zu machen“, so Koch im Landtag.
Aus diesem Grund habe sich die CDU für die Grünen als Partner entschieden, „denn diese Konstellation bringe beide Pole zusammen und sorgt gleichzeitig für die gesellschaftliche Akzeptanz, um diesen Weg zu gehen“.
Auf die Frage der Opposition, wie genau das geschehen soll, erklärt Monika Heinold, der Vertrag sei zwischen den Parteien geschlossen, die Regierung werde daraus ein Arbeitsprogramm erstellen. Das bedeutet, dass Opposition und Öffentlichkeit wohl noch eine Weile warten müssen, bis es konkreter wird.
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