Klimawandel und Wachstumsparadigma: Die Krise als Katalysator
Die Katastrophe in Australien ist nicht nur ein Hilferuf der Natur. Sie zeigt, wie nötig die Abkehr von einer wachstumsorientierten Wirtschaft ist.
I m 19. Jahrhundert warfen Ökonomen noch sehnsüchtige Blicke auf ihre Kollegen in der Naturwissenschaft. Gut hundert Jahre später scheinen sie sich den wissenschaftlichen Realitäten nicht mehr zu fügen. Es ist ausnahmslos die Wirtschaft, die einen Großteil der politischen Entscheidungsfindung vorantreibt – nicht die Naturwissenschaft mit ihren evidenzbasierten Modellen und Prognosen.
Der Spieß hat sich umgedreht. Und nirgendwo zeigt sich dies so akut wie in Australien. Buschfeuer wüten im ganzen Land, angeheizt durch die Rekordhitze, und fressen sich durch die ausgetrockneten Hektar Land, trockener als je zuvor nach der schlimmsten Dürre seit Generationen, gefolgt von Unwettern und Überschwemmungen.
Trotzdem hält der australische Premierminister Scott Morrison an der Vision fest, dass eine Wirtschaft des Wachstums die einzige Option sei. Er sagte im Fernsehen: „Was wir nicht tun werden, ist, uns auf rücksichtslose und arbeitsplatzvernichtende und wirtschaftsschädigende [grüne] Ziele einzulassen“. Geltend macht Morrison hier, dass die Wirtschaft mehr zähle als die Wissenschaft. Aber nicht nur irgendeine Wirtschaft.
Er hält an einem System fest, in dem der einzige Zweck der Umwelt ist, Input für die Produktion zu liefern, und in dem davon ausgegangen wird, dass Wachstum Vorteile für alle bedeutet. Das positioniert die Wirtschaft an der Spitze der Nahrungskette, von wo aus sie lediglich Krümel an die Gemeinschaft abgibt und Raubbau an der Erde betreibt, anstatt von der Gesellschaft abhängig zu sein und als Teil der Natur zu agieren.
Katherine Trebeck
ist promovierte Politologin und leitet den Bereich Politik und Wissen der „Wellbeing Economy Alliance“, eines globalen Zusammenschlusses von Nichtregierungsorganisationen, Bewegungen und Aktivist*innen. 2019 erschien ihr Buch „The Economics of Arrival: Ideas for a Grown-Up Economy“.
Australien wird die neue Normalität sein
Der Glaube, dass die Vormachtstellung der Wirtschaft es rechtfertige, alle anderen Bedenken herunterzuspielen, missachtet unzählige wissenschaftliche Beweise und Warnungen. Er verschließt die Augen vor der Frage, warum ganze Gemeinden aufgefordert werden, an Stränden Schutz vor dem Feuer zu suchen, warum die australische Marine zu ihrer Rettung hinzugezogen werden muss und warum ein Kleinkind eine Medaille zu Ehren seines Feuerwehrmann-Vaters bekam, der zusammen mit zwei anderen getötet wurde, als ein Baum auf ihr Fahrzeug fiel.
Was in Australien geschieht, ist beispiellos. Es ist das, wovor Wissenschaftler gewarnt haben. Und es wird die neue Normalität sein. Es ist der lauteste Weckruf, den Mutter Natur der Menschheit hätte senden können. Die Wunden, die wir ihr zugefügt haben, fordern unerbittlich ihren Tribut.
Manche Befürworter eines neuen Wirtschaftsmodells sind der Ansicht, dass die Bewegung für eine humanere Wirtschaft gerade im Falle einer „Krise“ mit Ideen und Visionen bereitstehen müsse, denn nur dann würden diese endlich greifen. Diese Haltung erscheint als eine eher privilegierte Perspektive, die ignoriert, dass viele Menschen auf der ganzen Welt bereits seit vielen Jahren unter den Auswirkungen eines Wirtschaftsmodells leiden, das Menschen und Planeten als Produktionsmaterial behandelt.
Zugegeben: Ein solch vordergründiger Mangel an Solidarität mag mit Realpolitik einhergehen. Vielleicht erkennt aber gerade diese Perspektive, die auf die Krise als Katalysator setzt, die dem Ganzen zugrunde liegenden Machtungleichgewichte an.
2020 könnte das Jahr für neue Allianzen werden
Und viele derer, die von den australischen Bränden betroffen sind, sind mächtig. Viele sind wohlhabend. Viele sind Menschen, die vom Wachstumsparadigma profitiert haben: Die Küstenhäuser von Bankern, Ärzten und Bauunternehmern wurden zerstört. Es sind die Leute, die die meisten Mittel haben, um mit der Katastrophe fertig zu werden und ihr Hab und Gut wieder aufzubauen. Aber vielleicht können sie helfen, das Gespräch zu drehen.
Denn während Australien weiterhin brennt, müssen wir hoffen, dass das, was die meisten Australier erkannt haben, auch anderswo endlich beachtet wird. Dass dieser monströse Hilferuf des Planeten die Tagesordnung so auf den Kopf stellt, dass die Wirtschaft zu ihrer Ehrfurcht vor der Wissenschaft zurückkehrt.
Dass nun, da auch reiche und mächtige Menschen von der Wut der Natur getroffen werden, sie sich an vorderster Front auf der ganzen Welt stark machen, ihre Stimmen erheben und ihr Kapital mobilisieren für den Übergang zu einer Wirtschaft, die den Planeten respektiert und eine sozial gerechte wie gesunde Umwelt in den Vordergrund stellt.
2020 könnte das Jahr werden, in dem neue Allianzen zusammenkommen – in der Erkenntnis, dass eine sogenannte Wellbeing Economy, also eine Wirtschaft des Wohlbefindens, gut für alle ist – für die Menschen wie für den Planeten. Glücklicherweise werden viele dafür notwendige Schritte bereits getan.
Das Bruttoinlandsprodukt als Maßstab ersetzen
Aber sie werden so lange vereinzelt bleiben, bis die Institutionen, Finanzströme und Unternehmen so gestaltet sind, dass sie sich regenerieren, anstatt andere auszubeuten. So lange, bis neue Maßstäbe, die näher an dem liegen, was für die Menschen und den Planeten am wichtigsten ist, das Bruttoinlandsprodukt ersetzen.
Daraus müssen andere Prioritäten und Entscheidungen folgen, einschließlich einer Verlagerung hin zum präventiven Wirtschaften. Das Steuersystem sollte Aktivitäten belohnen, die sich für eine Wellbeing Economy einsetzen, und diejenigen entmutigen, die dem entgegenstehen.
Erstere werden so lange die Ausnahme bleiben, bis die Preise von Gütern und Dienstleistungen die vollen Kosten enthalten – so preisen derzeit noch viele umweltschädliche Formen des Reisens ihre Folgen nicht ein und sind daher für die Verbraucher fälschlicherweise attraktiv. Dann würde auch eine bessere Nutzung der Ressourcen durch gemeinsames Eigentum und Nutzen gefördert.
Der Aufbau einer nachhaltigen Wellbeing Economy muss nicht disruptiv sein. Es gibt Wege und Ressourcen, um die Lebensgrundlagen aller zu schützen – und, noch besser, um sicherzustellen, dass diejenigen, die im derzeitigen Wirtschaftsmodell gerade so überleben, zuerst etwas davon haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“