Klettern bei den World Games: Rumhängen in freier Luft
Alma Bestvater gehört zur Weltspitze in ihrem Sport. Nun bouldert sie bei den World Games. 2020 muss sie einen „Kletter-Triathlon“ beherrschen.
Ein Gecko hat Millionen kleinste Haare an den Füßen, die zu einem physikalischen Phänomen führen: Die sogenannten Van-der-Waals-Kräfte lassen ihn auf Glas und sogar kopfüber klettern. Alma Bestvater hingegen braucht dafür sehr viel Kraft und eine fantastische Körperbeherrschung. Nach einer halben Minute ist ihre Klettertour zu Ende. Sie springt aus drei Metern auf den blauen weichen Hallenboden und ruht sich erst einmal aus. Schüttelt ihre Arme aus. Bouldern ist anstrengend, auch für Deutschlands beste Athletin, die am Freitag bei den World Games in Wrocław antritt.
Wenn sie in der Jenaer Boulderhalle „Plan B“ nach oben schaut, dann sieht Bestvater eine alte Krananlage. „Der Aufenthalt unter schwebender Last ist verboten“, steht da, „Tragfähigkeit 1,5 Tonnen“. Die Luft in der einstigen Industriehalle ist stickig, aus den Bässen dringt sphärischer Techno. Drei Dutzend Kletterer kraxeln herum, schrubben ab und an mit einer riesigen Zahnbürste den Kalk von den Griffen und fügen sich wie Bestvater in ein fast schon meditatives Trial-and-Error-Trainingsprogramm in der künstlichen Landschaft mit den bunten Griffen und Tritten.
Jeder macht sein eigenes Ding. Das scheint Alma Bestvater zu liegen, egal ob sie nun in einer Boulder-Halle in Jena, Erfurt oder Dresden klettert – oder bei den Weltcups in Mumbai, Tokio oder Vail. „Ich hab hier voll viel Freiraum“, sagt die zierliche Adhäsionskünstlerin, die ihr Abi auf einer Waldorfschule in Weimar gemacht hat. „Ich kann sehr diszipliniert trainieren, auch wenn mir keiner über die Schulter schaut. Ich bin sehr gut darin, allein meine Schwächen selbst zu finden.“ Ein paar Tipps bekommt sie an diesem Tag von ihrem Freund, Simon Stützer, der die Boulder-Bundesliga ins Leben gerufen hat.
Vorstellungen des Internationalen Olympischen Komitees
Künftig werden ihr aber mehr Leute hereinreden, denn das Sportklettern ist olympisch geworden. Es muss sich einpassen in Strukturen. Es muss sich den Vorstellungen des Internationalen Olympischen Komitees beugen. 2020 in Tokio wird es erstmals dabei sein. Es ist ein Dreikampf aus Bouldern, bei dem man ohne Seil nie höher als vier Meter klettert und schwierige „Probleme“ in der Wand löst, Lead-Klettern, also dem eher klassischen Seilklettern an einer 15 Meter hohen Wand, und dem Speedklettern, wo man in ein paar Sekunden eine genormte Wand heraufhastet.
Bouldern: Es wird schon weit über 100 Jahre frei und ohne Seil an Felsen geklettert. Um 1900 entdeckten französische Kletterer die Felsen bei Fontainebleau als Trainingsgebiet. In den 50er Jahren entwickelte der US-amerikanische Mathematikprofessor John Gill in „Felslaboratorien“ das Bouldern weiter. Es geht letztlich darum, möglichst schwierige Passagen mit einer gewissen Leichtigkeit zu klettern. In der Halle steht dafür ein Parcour zur Verfügung. Boulderer sind nicht unbedingt am stundenlangen Free-Solo-Felsklettern wie einst Alexander Huber oder Thomas Bubendorfer interessiert, ihnen reichen meist vier Meter hohe Wände völlig aus.
World Games: Es sind gewissermaßen die „Olympischen Spiele der nichtolympischen Sportarten“, die gerade im polnischen Wrocław stattfinden: Disziplinen wie Akrobatik, Trampolinturnen, Faustball, Billard, Boule, Tauziehen, Rettungsschwimmen, Orientierungslauf, Wasserski oder eben Klettern – und zwar getrennt nach Bouldern, Speed und Lead. Wie die Olympischen Spiele finden auch die World Games alle vier Jahre an wechselnden Orten statt – und zwar unter Schirmherrschaft des Internationalen Olympischen Komitees. Seit 1981 gibt es die World Games, zuletzt fanden sie 2013 in Cali (Kolumbien) statt, 2021 sind sie in Birmingham (USA) geplant.
Dieser neuartige Triathlon ist ein Kompromiss, der nur sehr wenigen Kletterern behagt. Bestvater spricht von einer „Kröte“, die sie schlucken muss: „Beim Seilklettern fange ich annähernd bei null an, bei Speed absolut bei null. Das ist wie Sprinten und Marathonlauf, das trainiert man ja auch komplett anders.“ Keine Frage, sie ist skeptisch, was ihr die neue olympische Herausforderung bringen wird. Aber sie will sich dem Neuen nicht verschließen. Dazu gehört jetzt auch, dass es um 6.50 Uhr an ihrer Türe klingelt, und der Dopingkontrolleur steht davor.
Leicht verunsichert ist auch der Deutsche Alpenverein (DAV), der plötzlich und ganz schnell olympische Spitzensportler herausbringen muss. Viel Zeit bleibt ja nicht mehr bis zu den Quali-Wettkämpfen 2019. Simon Stützer fragt sich, wie plötzlich aus einem „Wanderbank-Aufsteller“ ein Spitzensportverband werden kann.
„Da kann man in der Kürze der Zeit nicht alle Weichen stellen“, glaubt auch Arno Behr vom Berliner Alpenverein, „wir werden es kaum schaffen, einen Athleten dahingehend zu trainieren, dass er gleichzeitig in allen drei Disziplinen Weltklasse ist.“ Aus der DAV-Zentrale heißt es: „Wir sind relativ am Anfang, es ist alles noch ein bisschen in der Schwebe.“
Eine Riesenchance
Plötzlich fließt auch Fördergeld vom Bundesinnenministerium, und der DAV versucht nun im Eilverfahren, Strukturen zu schaffen, wie sie Ruderer oder Fechter schon seit Jahrzehnten haben: Drei neue Bundestrainer gibt es. In München und Köln sollen Stützpunkte eingerichtet werden, um die Kaderathleten fit zu machen für Olympia.
Von einer „dezentralen Zentralisierung“ spricht der neue Bundestrainer Urs Stöcker, 40. Er ist aus der Schweiz extra nach München gekommen. Sogar die Befristung bis 2018 hat ihn nicht von einem Vertrag abgeschreckt. Stöcker möchte in Deutschland etwas aufbauen, er sieht eine „Riesenchance, mit konsequenter Arbeit ist viel möglich“, hofft er. Schnell müsse es freilich gehen, sehr schnell. „Wir haben nur noch gut ein Jahr.“
Das olympische Format findet er gar nicht so schlecht, denn er mag Alleskönner. „Ich war selber ein Generalist, wie er im Buche steht.“ Stöcker war Eiskletterer, Seilkletterer, und er hat an schwierigen Expeditionen teilgenommen. Als theoretischer Physiker geht er die Sache ganz nüchtern an. Nach dem ersten großen Wettkampf im Olympiaformat im September wisse man mehr.
Zwiespältiges Verhältnis zum Alpenverein
Dann steigt die Jugend-Weltmeisterschaft, im kommendem Jahr die WM in Innsbruck. Danach wird man sehen, ob deutsche Kletterer wie Bestvater, Monika Retschy, Jan Hojer und Sebastian Halenke mithalten können – und ob Stars der Szene wie der Tscheche Adam Ondra bei ihrer grundsätzlichen Ablehnung des olympischen Dreikampfs geblieben sind.
Alma Bestvater hat ein zwiespältiges Verhältnis zum Alpenverein. Ein Funktionär aus Thüringen hatte heuer ihre Anmeldung zu den Deutschen Meisterschaften in Berlin verschlampt. Bestvater versuchte alles, um doch noch teilzunehmen. Sie suchte sogar juristischen Beistand. Aber die Funktionäre ließen sie nicht antreten. „Sehr komisch. Ich dachte, so sehr können die mich doch gar nicht hassen“, witzelt Bestvater.
Insider sagen, man habe an ihr ein Exempel statuieren wollen – nach dem Motto: Jeder müsse sich an Spielregeln halten. Nach der Ausbootung wollte Bestvater alles sausen lassen, rausfahren an den Fels und die Freiheit in der Natur genießen. Das hat sie dann auch getan. Im Silvretta-Gebiet kletterte sie sich an schwierigen Felsen die Finger blutig. „Draußen kämpft man nicht gegen die anderen, sondern lotet nur die eigenen Grenzen aus. Da kann man auch viel besser abschalten.“
Sie träumt von einem Trip nach Südafrika, zu den Rocklands. Dort ist sie schon einmal gewesen. Das kürzlich beim Frankenjura-Bouldercup gewonnene Preisgeld von 500 Euro fließt in die Reisekasse. Die Rocklands scheinen ihr ein bisschen wichtiger zu sein als ein Trip nach Tokio im Jahr 2020. Noch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin