Klassische TV-Sender: Absolute Trostlosigkeit
Vor allem die privaten Fernsehsender verlieren stetig Zuschauer. Anders als oft vermutet, liegt das nicht nur an den Streamingsdiensten.
Traditionell werden den Fernsehsendern im Januar die Quoten des Vorjahres um die Ohren gehauen: Sie sinken und sinken. Vor allem für die Privaten ist das existentiell, sie sind wegen der Werbeeinnahmen gerade auf die Zielgruppe fixiert, die abwandert: Noch im Jahr 2011 lag der Anteil der 14- bis 49-Jährigen die RTL, Sat.1 und ProSieben sahen zusammen bei 40,7 Prozent. 2017 waren es nur noch 30,1.
Schuld daran seien die US-Streamingdienste, heißt es oft. Über 100 Millionen Abonnenten soll Netflix weltweit haben, in Deutschland schätzungsweise dreieinhalb Millionen. Ähnlich Amazon: Viele Kunden des Onlinehändlers haben durch ihre „Prime“-Mitgliedschaft Zugang zum Videoangebot, in England, Japan und Deutschland sollen es elf Millionen sein.
Aber die Wahrnehmung, das Netflix und Co. den klassischen TV-Sendern ihr Publikum wegnehmen, ist verzerrt. Die Zuschauerzahlen gehen nicht erst seit Netflix zurück. Seit den 80ern ist die Zahl der Kanäle stetig gewachsen, dann kam das Internet als Verbreitungsplattform für die Sender dazu. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer verteilte sich nun. Inzwischen gibt es fast 100 frei empfangbare lineare Sender, darunter nischige Ableger wie ZDF Neo oder Pro 7 Maxx. Die Werbeeinnahmen der Privaten werden dadurch nicht weniger.
Die 14- bis 39-Jährigen saßen im vergangenen Jahr im Schnitt immer noch zweieinhalb Stunden pro Tag vor dem Fernseher, elf Minuten weniger als 2016. „Die Onlineportale haben nicht wesentlich Einfluss auf die Einschaltquoten“, sagt Helmut Thoma, ehemaliger Geschäftsführer von RTL. „Die Serien von Netflix sind toll, aber wer interessiert sich schon, wie bei 'House of Cards’, für die Intrigen im US-Kongress, wo die meisten noch nicht einmal den deutschen Bundestag verstehen? Das ist ein Minderheitenprogramm.“
Unterschiedliche Bedürfnisse
Der Strategie-Chef der Mediengruppe RTL Marc Schröder gibt sich ebenfalls entspannt: Die meisten Nutzer sähen neben den Bezahlangeboten auch lineares TV: „Weil beide Genres unterschiedliche Bedürfnisse erfüllen – die Onlinevideotheken bieten sehr viel US-Fiction. Für Sport, Shows und deutsche Serien greifen auch Netflix-Abonnenten aufs klassische Fernsehen zurück.“ Schröder vermutet deshalb, dass der klassische lineare TV-Konsum stagnieren, aber nicht weiter sinken werde.
Ganz so einfach ist es dann aber doch nicht. Denn auch wenn die Erosion des linearen Fernsehens eher schleichend vor sich geht, dürfte allen TV-Managern klar sein, dass sich das Nutzungsverhalten langfristig ändern wird. Da ist sich zum Beispiel der Geschäftsführer von Warner TV Deutschland, René Jamm, sicher: „Je mehr sich die technischen Möglichkeiten verbreiten und je leichter bedienbar sie sind, desto mehr werden sie auch von der älteren Zielgruppe genutzt werden.“ Bisher sind es vor allem die unter 39-Jährigen, die Filme und Serien um Netz schauen.
Auf neueren Fernsehgeräten sind die Sender-Apps und Mediatheken mittlerweile vorinstalliert. Das animiert die Sender, ihre Onlineangebote so attraktiv und umfangreich wie möglich zu gestalten. RTL hat vor, alles, was im klassischen Programm läuft, auch im Internet zugänglich zu machen – und will dafür neue Formate entwickeln.
Zu lange auf uralte Formate gesetzt
Aus der Sicht des früheren RTL-Geschäftsführers Helmut Thoma haben sich die großen Sender zu lange auf uralte Formate wie „DSDS“, „Dschungelcamp“ oder „Wer wird Millionär“ verlassen. Thomas Fazit: „Die Privaten müssen sich nicht sonderlich um die Video-on-Demand–Konkurrenz kümmern, sie müssen nur etwas gegen die absolute Trostlosigkeit ihrer eigenen Programme machen. Die ProSiebenSat.1-Videothek Maxdome hat letztes Jahr mit „Jerks“ als erste eine deutsche Eigenproduktion vorgestellt.
Ob das innovative Privatfernsehen kommt? Eins ist klar: TV-Sender, die in den nächsten Jahren nicht dafür sorgen, dass ihre Angebote unkompliziert auch übers Netz abrufbar sind, haben keine Zukunft.
Update 13.02., 9:30: In einer früheren Fassung dieses Textes wurde Helmut Thoma als Geschäftsführer von RTL bezeichnet. Tatsächlich ist er der ehemalige Geschäftsführer von RTL. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit