Klassik mischt sich mit Elektronik: Bolero im Berghain
Neue Musik oder neues Marketingkonzept? Klassik und Elektronik mischen sich. Die Grenze zwischen Club und Konzertsaal verwischt.
Eine völlig neue Musik entsteht. Oder doch nicht? Seit einer Weile schon bewegen sich Klassik und Elektronik aufeinander zu und pflegen immer selbstverständlicheren Umgang. Die Grenze zwischen Club und Konzertsaal verwischt, und auch wenn man bisher wenige Abonnenten philharmonischer Konzerte in einschlägigen Techno-Tempeln antrifft, kommt mehr und mehr klassische Musik in die Clubs. Produzenten von Computermusik bedienen sich ohne Berührungsängste aus dem Klassikrepertoire, wobei sie gern auf Klavierklänge zurückgreifen. Und die als steif geltenden Kollegen vom Orchester werden neugierig, was jenseits von Partitur und Taktstock so geht.
Da heutzutage fast alles geht, erscheint diese Entwicklung nicht unbedingt sensationell. Ähnliche Tendenzen gab es auch im vordigitalen Zeitalter, seien es die größenwahnsinnigen Klassik-Bearbeitungen von Bands wie Emerson, Lake and Palmer mit ihren synthesizergetränkten "Bildern einer Ausstellung" oder Strawinsky-inspirierte Rhythmus-Experimente à la King Crimson. Von Wendy Carlos unvermeidlichen "Switched-On Bach"-Platten sei an dieser Stelle einmal nicht die Rede. Ironischerweise verhielt es sich mit der Elektronik in den frühen Neunzigern noch so, dass die bloße Erwähnung des Worts "Techno" hitzige Diskussionen über die Frage auslösen konnte, ob das überhaupt Musik ist. In der Clubszene sozialisierte Computermusiker hingegen, die heutzutage Kurs Richtung Klassik einschlagen, können in der Regel auf den Zuspruch ihrer am Konservatorium geschulten Kollaborateure zählen, ohne sich für ihren Ansatz rechtfertigen zu müssen. Und das ist tatsächlich neu: Während klassikaffine Prog-Rocker mit ihren Verbeugungen vor den großen Meistern immer auch ihr brav eingeübtes Musikhandwerk unter Beweis stellen mussten, um sich überhaupt als würdig zu erweisen, können manche der softwaregestützten Musiker nicht einmal Noten lesen.
Heute stellen sich Fragen anderer Art: Entsteht da überhaupt etwas? Ist das wirklich neu? Einen subjektiven Überblick zum Stand der Dinge bietet die im Hause Universal Music erschienene Compilation "XVI Reflections On Classical Music". Der Musiker Me Rabenstein wählte 16 Titel recht unterschiedlicher Künstler aus, die auf wundersame Weise perfekt zusammenpassen. Der Pianist Hauschka und House-Produzent Lawrence nehmen ganz selbstverständlich neben Komponisten wie Philip Glass oder Gavin Bryars Platz, ohne die Harmonie der sehr schönen Zusammenstellung zu stören. Atmosphäre und Textur stehen stärker im Vordergrund als komplexe Strukturen. Unbestimmtheit gibt den Ton an, scharfe Ecken und Kanten werden vermieden. Oft sind es gefühlte Klassik-Elemente, mit denen die Produzenten arbeiten. Gemein ist ihnen die fehlende Genrefixiertheit bei großer Hörerfreundlichkeit, sodass Fragen nach "ernster" Musik oder Avantgarde gar nicht erst aufkommen.
Christian Kellersmann, Chef der Klassik- und Jazzabteilung bei Universal, betrachtet die Compilation denn auch weniger als Manifest denn als Anregung: "Es ist an der Zeit, eine neue Diskussion zum Thema klassische Musik zu eröffnen und zu fragen, ob sie einem größeren Publikum gefallen darf." Kellersmann verfolgt den Weg, neue Klassikhörer aufzuspüren, seit einigen Jahren. Angefangen mit dem "Klassik im Club"-Konzept der Yellow Lounge, folgten Projekte wie die "Recomposed"-Reihe der Deutschen Grammophon, in der unter anderen Moritz von Oswald und Carl Craig beeindruckend demonstrierten, dass man auch aus Ravels "Bolero" tolle elektronische Musik machen kann.
In Annäherungen dieser Art sieht Volker Bertelmann alias Hauschka einen Gewinn für beide Seiten. Die Offenheit im Klassik-Genre signalisiere ein wachsendes Selbstbewusstsein, die Musikern wie ihm neue Möglichkeiten bietet: "Über den Ansatz, klassische Musik zu verarbeiten, ergibt sich die Chance, zeitgemäße Musik zu komponieren, die auf Augenhöhe mit der klassischen Musik wahrgenommen wird." Er selbst schreibt derzeit an einem Auftragswerk für Orchester.
Bis auf weiteres scheint die große Umarmung jedoch eher Marketingstrategie denn ästhetischer Paradigmenwechsel zu sein. Mit Erfolg: Die "Yellow Lounge" zur Veröffentlichung der "Reflections"-Compilation im Berliner Club Berghain platzte aus allen Nähten, das Publikum klatschte zu Hauschka genauso wie zu den Bach-Interpretationen des Star-Oboisten Albrecht Mayer. Ob diese Entwicklungen tatsächlich zu einer neuen Form künstlerischer Selbstermächtigung mit guter Musik frei von dogmatischen Vorgaben führen werden, bleibt abzuwarten. Die Mittel stehen bereit.
TIM CASPAR BOEHME
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Kohleausstieg 2030 in Gefahr
Aus für neue Kraftwerkspläne
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Russlands Nachschub im Ukraine-Krieg
Zu viele Vaterlandshelden