Klagen gegen illegale Musikdownloads: Jeden kann es erwischen
Jeder Musik-Kunde ist ein potenzieller Dieb, glaubt die Industrie und verfolgt die Strategie der massiven Abschreckung. Plattenfirmen verklagten 2007 Zehntausende.
Plötzlich lag das Schreiben im Briefkasten, und Klaus Mansin* war ein Krimineller. Er hatte sich des Diebstahls von Musik schuldig gemacht. In großem Stil. Das stand jedenfalls in dem Brief von der Staatsanwaltschaft. Ungefähr 500 Songs waren es, die er in einer Peer-to-Peer-Tauschbörse zum Download zugänglich gemacht hatte - weniger absichtlich, sondern eher aus einer Mischung aus Versehen und technischem Unverständnis. Nun aber, drohte ihm der Brief, sollte er der Musikindustrie 1.000 Euro schuldig sein - pro Song.
Natürlich, sagt Mansin heute, sei ihm klar gewesen, dass das, was er da getan hatte, "nicht ganz legal ist". Er hat all die Jahre zwar immer weiter ganz offiziell Musik erworben, aber längst fand er CDs eigentlich zu teuer. Als Bühnenarbeiter an einem Theater in Berlin ist sein Einkommen zwar sicher, aber nicht üppig. Das kostenlose Download aus dem Internet war bequem, technisch selbst für einen Laien wie ihn problemlos, zudem noch völlig umsonst und nicht zuletzt, wie er glaubte, weitgehend ungefährlich. "Ich habe immer gedacht, es wird mich schon nicht erwischen", erinnert er sich, "es gibt doch Millionen andere Nutzer."
Tatsächlich. Und viele von denen tun nichts anderes als Mansin. Nach Schätzungen des Bundesverbandes der phonografischen Wirtschaft e. V. (Bundesverband Phono) wurden 2006 allein in Deutschland mehr als 400 Millionen Musiktitel über Tauschbörsen aus dem Internet heruntergeladen, weltweit sollen es sogar 20 Milliarden sein. Der Großteil dieser Titel ist urheberrechtlich geschützt, das Download mithin illegal. Das Unrechtsbewusstsein allerdings ist nicht allzu ausgeprägt: "Ich sehe das auch heute nicht als besonders kriminell an", sagt Mansin. Man nimmt ja, wenn man Musik klaut, niemandem etwas weg. Die Musik wird kopiert, und der andere hat sie ja immer noch. Dass Musiker, auch durchaus bekannte, mittlerweile von ihren Plattenveröffentlichungen nicht mehr leben können, das ist den meisten Konsumenten egal.
Jahrelang hat die Musikindustrie vor allem mit Moralkampagnen und Lobbyarbeit versucht, das fehlende Unrechtsbewusstsein in der Bevölkerung wieder neu zu installieren und den schleichenden Wertverfall der Musik aufzuhalten - ohne großen Erfolg. Im April 2007 stellte der damalige Phonoverbandsvorsitzender Michael Haentjes fest: "Weil eine Festplatte immer gleich viel wiegt - egal ob 100, 1.000 oder 10.000 Musikdateien darauf gespeichert sind - geht schleichend das Gefühl für den Wert von Musik verloren."
Zu diesem Zeitpunkt hatte die Industrie längst die Strategie geändert. Von nun an ging man mit härteren Bandagen gegen den ihrer Meinung nach hauptsächlichen Grund für die dramatischen Umsatzeinbußen vor: Seit ungefähr drei Jahren werden Downloader nun auch mit juristischen Mitteln verfolgt. Hierzulande, verkündete der Phonoverband stolz, wurden allein im ersten Quartal des vergangenen Jahres mehr als 15.000 Strafverfahren eingeleitet, Mitte des Jahres waren es schon 25.000. Auch Klaus Mansin erhielt eine Woche nach dem Schreiben der Staatsanwaltschaft einen Brief von einem Rechtsanwaltsbüro, das beauftragt war von Plattenfirmen wie Sony BMG, EMI, Universal, Warner und Edel Records: Er solle 5.000 Euro überweisen und eine Unterlassungserklärung unterschreiben. Mansin geriet in Panik und löschte alle Songs, freigegeben oder nicht, von seiner Festplatte. Allzu sinnvoll, das weiß er heute, war diese Aktion nicht. Das Rechtsanwaltsbüro hatte in Kopie eine Liste der auf seinem Rechner befindlichen, freigegebenen Musiktitel beigelegt.
Demnächst, so will es die Musikindustrie, soll es so weit erst gar nicht kommen. Die International Federation of the Phonographic Industry (IFPI), der internationale Dachverband der Musikindustrie, hat eine neue Lobbyinitiative gestartet. Die IFPI beklagt in einem im Internet einzusehenden Papier das unzureichende Entgegenkommen der Internetprovider bei der Lösung ihrer Piraterieprobleme. Sie will man in der Zukunft noch mehr in die Pflicht nehmen. Nicht nur sollen sie wie bisher die Identität ihrer Kunden schon bei Verdacht enthüllen. Fortan sollen die Provider bereits den Datentransfer in Tauschbörsen unterbinden, sobald illegale Dateien im Spiel sind. Die technischen Möglichkeiten dazu wären, so die IFPI, durchaus "durchführbar und kostengünstig". Schließlich, so die Argumentation des Interessenverbandes, gebe es ja bereits jetzt entsprechende Filter, um gegen Spam-Mails vorzugehen. Im Idealfall, so die Zukunftsvision, wird beim Start eines Downloads sofort mit einer Datenbank abgeglichen, ob die Datei - egal ob Musik oder Film - urheberrechtlich geschützt ist. Ist das der Fall, ständen zwei Optionen zur Verfügung: das Herunterladen automatisch abzubrechen oder sogar die betreffende Website zu blockieren. Diese Maßnahmen, so das Papier, würden "die Internetpiraterie dramatisch reduzieren". Immerhin gibt die IFPI zu, dass "keine Technologie allein das Piraterieproblem zu 100 Prozent lösen kann". Aber immerhin soll der Downloader in der schönen neuen Digitalwelt, die der Unterhaltungsindustrie vorschwebt, so gut wie möglich vor sich selbst geschützt werden. Mansin kann das verstehen: "Irgendwann", erinnert er sich, "wurde das Runterladen zum Sport."
Diesen Sport übt er nun nicht mehr aus. Mit dem Rechtsanwaltsbüro einigte er sich auf einen Vergleich. Er akzeptierte 2.000 Euro Schadenersatz und Aufwandsentschädigung, vereinbarte Ratenzahlung und unterschrieb die Unterlassungserklärung. Schriftlich versicherte er damit den klagenden Plattenfirmen, ihre Produkte nicht mehr "im Internet Dritten verfügbar zu machen oder sonst wie auszuwerten".
Mit solch einem Vergleich endet der überwiegende Teil der eingeleiteten Strafverfahren. Die in die Fänge der Juristen geratenen Downloader sind wie Mansin froh, "glimpflich davongekommen zu sein", und fühlen sich "als Pechvogel". Es ist das Prinzip Abschreckung: Die Musikindustrie will, so hat sie ganz offiziell verkündet, möglichst flächendeckend Strafverfahren einleiten, sodass irgendwann jeder potenzielle Kunde einen ertappten Downloader kennt oder zumindest von einem gehört hat. Dass sehr viele der File-Sharer minderjährig sind, stört da nicht: Haftbar ist der Besitzer des Internetanschlusses, also im Zweifel die Eltern. Jeden, so die übermittelte Botschaft, kann es erwischen.
Kollateralschäden sind da allerdings nicht auszuschließen: Anfang Dezember sprach das Amtsgericht Hamburg-Altona einen angeblich straffällig gewordenen Musikfreund nicht nur frei, sondern verurteilte sogar die klagenden Plattenfirmen auf Schadenersatz. Offensichtlich hatte es einen Fehler beim Provider gegeben: Durch einen Zahlendreher in der IP-Adresse wurden die illegalen Downloads dem falschen File-Sharer zugeordnet.
Solche und ähnliche Probleme dürften gehäuft auftreten, wenn die Musikindustrie mit ihren Wünschen durchkommen sollte und demnächst schon beim Versuch eines Downloads gegen potenzielle Übeltäter vorgeht. Wenn dann automatisch Datenverkehr unterbrochen wird und womöglich sogar Websites gesperrt werden, wird es unweigerlich auch Unbeteiligte treffen. Den Unterhaltungskonzernen scheint nicht klar zu sein, welche Klagewelle da auf sie zurollen könnte. Man stelle sich nur vor, die Homepage eines angesehenen Onlineshops ginge vom Netz, weil einer der Mitarbeiter den Fehler begeht, die von zu Hause mitgebrachte Beatles-CD zum Download freizugeben, die er auf seinen Rechner geladen hatte, um sich mit ihr die Arbeitszeit zu verkürzen.
Schon jetzt sind die Strafverfahren ein einträgliches Geschäft. Nicht unbedingt für die Musikindustrie, die ihre Umsatzverluste kaum mit dem Geld aus den Vergleichen wird kompensieren können. Aber doch zumindest für von ihr beauftragte Anwaltsbüros, besonders für die Kanzlei des Hamburger Rechtsanwalts Clemens Rasch. Der ist außerdem Geschäftsführer der Firma proMedia, die auf ihrer Website damit wirbt, "Urheberrechtsverletzungen im Bereich Musik" zu ermitteln. Ihre Methoden: "Onlineermittlung" und "Internetmonitoring". Aber auch auf Flohmärkten und CD-Shops suchen die Ermittler von proMedia nach illegalen CD-Pressungen. Die ermittelten Fälle schickt proMedia dann weiter an die Kanzlei Rasch, die daraufhin die Strafanträge verschickt. Clemens Rasch, in den einschlägigen Foren längst gefürchtetster Gegner der Internetpiraterie, war von 1998 bis 2003 Justiziar des Phonoverbandes.
Mittlerweile beobachtet proMedia deutschlandweit und systematisch mit mehr als 100 Mitarbeitern das Internet, lädt Musik und Filme herunter, protokolliert die Vorgänge und zeigt dann die Anbieter an. Anbieter aber ist jeder, das ist das Prinzip der Peer-to-Peer-Börsen. Auch hier ist die Botschaft dieselbe: Der große Bruder schaut zu.
Klaus Mansin weiß das jetzt. Deshalb lädt er keine Musik mehr aus dem Internet herunter. Weder illegal noch legal. Illegal, weil ihm aufgrund der Unterlassungserklärung nun "eine astronomische Strafe droht". Legal, weil die offiziellen Downloads meist nicht beliebig kopierbar sind. Stattdessen lässt sich Mansin nun von Freunden CDs kopieren. Das ist zwar umständlicher, aber weitaus sicherer. Illegal ist es trotzdem: Zwar ist auch nach der am 1. Januar in Kraft getretenen Novelle des Urheberrechts die Privatkopie erlaubt. Jetzt verboten aber ist das Umgehen eines Kopierschutzes, so leicht zu knacken dieser auch sein mag. Auch wenn die meisten Brennprogramme einen guten Teil der Antikopiervorrichtungen auf CDs inzwischen automatisch aushebeln, ist es nun theoretisch strafbar.
Der Phonoverband schätzt, dass im Jahr 2006 in deutschen Privathaushalten auf 486 Millionen CDs Musik gebrannt wurde. Zum Vergleich: Verkauft haben die Plattenfirmen in Deutschland 150 Millionen CDs. Wenn all die illegalen Downloads und all die privat gebrannten CDs regulär bezahlt würden, ergäbe das jährliche Einnahmen von insgesamt fast sieben Milliarden Euro, glaubt die Musikindustrie - gut das Vierfache des tatsächlichen aktuellen Umsatzes der Branche. Natürlich ist das eine Milchmädchenrechnung. Niemand will und kann all die Downloads bezahlen. Die Konsumenten sparen, nicht nur an der Musik, aber dort und an anderen Luxusgütern zuerst.
Doch das Problem bleibt weiterhin dasselbe: Der Wert, den Musik hat, ist gesunken. Die Schuld daran tragen die Unterhaltungskonzerne auch selbst. Weil die Qualität ihres Produkts zum Teil erbärmlich ist. Und weil manche von ihnen einerseits Musik immer teurer machen, aber gleichzeitig immer billigere CD-Brenner auf den Markt bringen.
Dieter Gorny, der neue Chef des Phonoverbandes, fordert deshalb ganz neue Konzepte. Musik gehöre wie Wasser, sagte er unlängst in einem Interview, zur Grundversorgung. Wasser bezieht der Konsument von den Stadtwerken in einer Art Flatrate. So etwas, findet Gorny, wäre auch für Musik denkbar. Man sieht, dem Vorsitzenden steht noch einiges an Lobbyarbeit bevor.
"Musik ist mir sehr wichtig", sagt auch Klaus Mansin. Er ist mit Popmusik groß geworden und mag sich ein Leben ohne Wasser ebenso wenig vorstellen wie ohne Musik. Die Frage ist nur: Wie viel will er dafür bezahlen. "Ich glaube nicht, dass die Plattenfirmen das in den Griff kriegen werden", sagt der 47-Jährige. "Die Jugend heute, die kennt sich wunderbar aus und ist doch noch viel besser vernetzt als unsere Generation."
* Name geändert
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