Kirschkernweitspucken-WM: Leckerster Wettbewerb auf Erden
Bei der 47. Weltmeisterschaft im Kirschkernweitspucken in Düren feiern Mädchen und ein Sachse Triumphe.
Wir sind in Düren zwischen Köln und Aachen neben der Annakirmes, einem der größten Rummelfeste im Rheinland. Die WM ist eine Art Joint Venture: Die Wiese stellt der Verein Hundefreunde Düren 1997, die Kirmesgeschäfte locken Interessierte an, Eventveranstalter ist die Stadt. Deren tatkräftige Leute haben auch die feuerrote Bahn gezimmert mit gespannter Hartplastikfolie zwischen Holzbohlen, 25 Meter lang und sehr eng mit kaum mehr als einem Meter. Da soll der Kern nicht seitlich weghopsen?
JedeR kann teilnehmen und hat drei Versuche. Es gibt die Stehspucker, die sich nur nach hinten biegen, teils schräg teils gerade, dann mit dem Kopf vorschnellen, die Zunge rollen – und raus. Andere nehmen sogar ein paar Schritte Anlauf. Immer wieder gibt es Regenschauer und Unterbrechungen. Die Bahn wird ständig neu gefegt und abgezogen, weg mit dem Nass, wischwischwisch, als wäre man beim Eisstockschießen.
Nach jedem Teilnehmer wird die Bahn ohnehin entkernt. Ein feuchter Untergrund (wie auch zu große Hitze) lässt keinen Weltrekord zu, eine Frau im kirschroten Hemd hatte kurz vor dem Start Holzpflöcke mit den Bestmarken neben die Piste gehämmert: 16,01 Meter bei den Frauen, bei den Männern 22,52 Meter, beide aufgestellt 2017.
„Schade, aber da wird ein Baum draus.“
Und wieder Regenpause. Zur Stärkung gibt es im Vereinsheim der Hundefreunde selbstgemachten Blechkuchen mit Kirschen. „Der Wettergott“, sagt derweil der launige Moderator, „meint es gut mit uns, er weint schon mit den Verlierern.“ Als ein Kern von der Bahn ins Aus kullert, kommentiert er routiniert: „Schade, aber da wird ein Baum draus.“ Einem rutscht der erste Kern vorzeitig aus dem Mund: 2,24 Meter. „Es heißt Weitspucken, nicht fallen lassen …“ Großes Gelächter. Humorlos verzichtet der Gefoppte auf weitere Versuche und trollt sich beleidigt. Schafft jemand eine gute Weite, sagt der Moderator: „Das war der beste Spuck.“
Jüngster Teilnehmer ist der Diego mit zwei Jahren, sein Bestspuck rollt bei umjubelten 1,58 Meter aus, also fast das Alter in Metern. Diego wäre souveräner Weltmeister, gäbe es eine eigene Starterklasse U2. Jugend-Championesse bis 14 wird die erst 11-jährige Paulina Lehre aus Willich bei Krefeld mit saftigen 10,62 Metern im letzten Versuch. Strahlend vor Glück stemmte sie nachher den WM-Pokal in die Höhe und freute sich über einen dicken Kirmesgutschein. Alle drei ersten Plätze schafften Mädchen. Bei den Frauen siegte Titelverteidigerin Patricia Sanchez-Sanchez aus Koblenz mit 12,49 Metern.
Kirschkernweitspucken – klingt gaga? Nun, auf dieser rekordesüchtigen Wettbewerbswelt gibt es auch Weltmeisterschaften im Luftgitarrespielen, im Kopfrechnen, im Käse rollen oder sogar im Zehendrücken, was man sich als Armdrücken unten vorstellen möge. Andere beweisen sich bei der Schlammfußball- oder Arschbomben-WM, Papierflieger möglichst lange segeln lassen, Pfeifen möglichst langsam rauchen. Die besonders humoresken FinnInnen rufen zu Championaten im Gummistiefel- oder Handy-Weitwerfen. Und es gab, solange es noch kalt genug war, bis 2001 in Grönland das Kräftemessen im Eisgolf auf dem zugefrorenen Nordmeer. Alles hieß und heißt Weltmeisterschaft.
Warum dann nicht auch eine WM mit Kirschkernen? Klingt sinnlicher und filigraner als es etwa Avocadokernweitspucken wäre oder Ausdauer-Jonglage mit Wassermelonen. Und was sonst gibt es an Weltmeisterschaften mit dem Mund? Vielleicht Dauerküssen oder Musikinstrumente möglichst lang beblasen. Oder gleich was mit Blasrohren? In den Anfangsjahren, erzählt in Düren ein Kirschkernveteran, hätten tatsächlich ein paar Leute eine zweite Disziplin mit Blasrohr etablieren wollen, „aber bei denen fanden wir die Kerne nicht wieder“.
Der richtige Winkel
Kern ist nicht gleich Kern. Je runder desto roll, also desto besser, das sagen alle. Der einheimische Hans-Peter Iven ist achtfacher Champion (zwischen 1983 und 2013; Bestweite 20,59 Meter). Warum er das so gut kann? „Wirklich keine Ahnung. Hat sich so ergeben.“ Ein Geheimtipp? „Wichtig ist der richtige Winkel. Viele Anfänger spucken zu hoch.“ Und: „Manche versuchen auch, die kleine Spalte im Kern vorher zuzubeißen.“ Iven grinst dazu. Wer das wirklich versuchen würde, landet auf dem Zahnarztstuhl. Ivens Versuche enden in diesem Jahr bei gut 12 Metern. „Ich muss wohl langsam dem Alter Tribut zollen.“ Er ist 75.
Szenekenner in Düren berichten, Leute hätten schon mit Feilen die Kerne geschliffen, einer habe gar mal versucht, Bleikügelchen zu implantieren, fiel aber auf und wurde disqualifiziert. Zum Doping scheint es da nicht mehr weit – nur, wie würde das gehen? Epo-Injektionen für den Zungenmuskel? Inhalieren mit Kirschbränden?Erstaunlich: Angemessene Sponsorenbanner fehlen. Liköre wie Eckes Edelkirsch böten sich doch an oder Mon Chéri mit den Piemontkernen. „Gute Idee“, sagt Organisator Marcus Steffens, der Leiter des Amtes für Stadtentwicklung in Düren, „da sind wir noch nicht drauf gekommen, das könnten wir mal versuchen.“
Steffens berichtet auch, wie es überhaupt zur WM kam. Im Jahr 1974 hatten ein paar Leute diese Kirschschnapsidee, trafen sich zum Wettkampf und nannten sie WM. „Damals hast du das einfach gemacht. Heute würde man im Netz suchen, ob es das vielleicht schon gibt.“ Gab es damals wirklich nicht, also wurde Düren zum Welthotspot im Kirschkernweitspucken.
Richtig rund ist kein Kern. Eher ähneln sie Baby-Rugbyeiern oder Minikiwis in hellbraun. Jemandem aus Neuseeland müsste das sehr zupasskommen, dem Land der Erstzüchter von Kiwi-Früchten und den All Blacks als dreifachem Rugby-Weltmeister. Und tatsächlich hatte mit Ernst-Bernhard Wipperfürth aus Christchurch, 73, Landesmeister im Tischtennis Ü70 und auf Deutschlandbesuch nebenan in der Voreifel, erstmals ein Wettkämpfer von Down Under antreten wollen. Eine Erkältung zerstörte alle Titelträume. So blieb es bei Teilnehmenden aus Großbritannien, Belgien und der Schweiz.
„Dynamo, Dynamo“ schallte es nach der Männer-Konkurrenz lautstark über die Wiese. Die Rufe galten dem neuen Weltmeister Daniel Uhlemann, Beamter aus Köln, der lange in Düren gelebt und 16,38 Meter weit gespuckt hatte. Der Mann mit dem kecken Zöpfchen ist 1990 in Dresden geboren („ja, so gerade noch richtig in der DDR, das ist doch bestimmt gut für die Story, oder?“) und hatte die halbe Sippe dabei. Die Choräle angestimmt hatte eine Frau, die sich sächselnd mit „Ich bin die Muddi“ vorstellte. Danach sprach länglich der Ortsvaddi, Dürens Bürgermeister.
Unser Autor schied bei seiner WM-Premiere mit 10,76 Metern im Vorkampf aus. Die Kirschen waren aber wirklich köstlich. Leckerer kann eine WM kaum sein.
Abkauen, Knabbern und dann viel Lutschen, ausdauernd lutschen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Parteiprogramme für die Bundestagswahl
Die Groko ist noch nicht gesetzt
Foltergefängnisse in Syrien
Den Kerker im Kopf