Kirill Serebrennikov in Salzburg: Der Schlitten fährt sich fest
Kirill Serebrennikov überzeugt bei den Salzburger Festspielen mit „Der Schneesturm“ nach Vladimir Sorokin. Das Stück versöhnt mit einem durchwachsenen Jahrgang.
Es war ein Theaterregisseur, der vor 105 Jahren die Salzburger Festspiele gründete: Max Reinhard inszenierte 1920 Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“ auf dem Domplatz, wo er heute noch gespielt wird. Obwohl das Spiel vom Sterben des reichen Mannes nach wie vor eine der Cashcows des Programms ist, werden die Festspiele heute jedoch vor allem als Klassik-Festival gehandelt, dominiert von den großen Opern-Produktionen und dem imposanten Konzertprogramm.
Das Salzburger Sprechtheater hat in den vergangenen Jahren schleichend an Bedeutung verloren – einzelne Highlights ausgenommen – und zur Strahlkraft der Festspiele immer weniger beigetragen. Dazu passt, dass die Festspiele sich von der erst 2024 angetretenen Schauspielchefin Marina Davydova nach nur einer Saison trennten und der Leitungsposten seither verwaist ist. Ihr bereits geplantes Programm für 2025 wird dennoch unverändert umgesetzt.
Für 2026 wird Intendant Markus Hinterhäuser das Schauspielprogramm selbst verantworten, was Davydova neulich dazu veranlasste, öffentlich zu raunen, das Schauspiel würde womöglich ganz abgeschafft, was Hinterhäuser allerdings umgehend dementierte.
Mit anderen Worten: Es gab schon bessere Zeiten für die Schauspielsparte bei den Salzburger Festspielen. Nach einer zerfransten Dramatisierung von Karl Kraus’ kolossalem Kriegskaleidoskop „Die letzten Tage der Menschheit“ von Regisseur Dušan David Pařísek und einem enervierenden Gastspiel des Odéon – Théâtre de l’Europe mit dem vierstündigen „Le Passé“ von Julien Gosselin können die Festspiele mit der letzten Produktion dieses Jahrgangs endlich aufatmen.
Am 12. September eröffnet das Schauspielhaus Düsseldorf die Spielzeit mit dieser Inszenierung. Weitere Termine: 14.9., 31.10. und 14.11.
Sinnliches Total-Theater
Erneut kommt ein formal und ästhetisch gewagtes Experiment auf die Bühne: Regisseur Kirill Serebrennikov hat die Erzählung „Der Schneesturm“ des russischen Gegenwartsautors Vladimir Sorokin eingerichtet und in Koproduktion mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus ein sinnliches und assoziationsreiches Total-Theater geschaffen, in dem Sprechtheater, Musik und Tanz wie selbstverständlich verschmelzen.
Sorokin und Serebrennikov leben seit Jahren im Berliner Exil und gelten als scharfe Putin-Kritiker. Dass die Uraufführung von „Der Schneesturm“ ausgerechnet auf den Tag des für Putin erfolgreichen Gipfeltreffens in Anchorage fällt, gibt dem Abend eine fatale Dringlichkeit.
Sorokins 2010 geschriebene Novelle „Der Schneesturm“ ist eine hochprozentige Mischung aus alten russischen Motiven und Science-Fiction. Erzählt wird von einer Irrfahrt durch ein surreal überzeichnetes, märchenhaftes und grausames Russland. Ausgerechnet an einem besonders heißen Tag herrscht auf der Bühne (Vlad Ogay) der Perner-Insel fast durchgängig der titelgebende Schneesturm, durch den Dr. Garin (phänomenal: August Diehl) sich mit dem trottelhaften Kutscher Perkushka (großartig: Filipp Avdeev) zu einem Dorf durchkämpfen will, um die dort von einer Zombie-Seuche bedrohten Einwohner zu impfen.
Aber es geht nicht voran, denn der Kutscher hat nur 50 Spielzeug-Pferde zu Verfügung, eine Kufe des Schlittens ist geborsten und allerlei weitere Hindernisse stellen sich in den Weg, wie etwa eine lüsterne Müllerin, die den Frierenden zu Schubert-Klängen Unterschlupf und Körperwärme gewährt. Später fährt sich die fragile Schlitten-Kufe gar im Nasenloch eines Riesen fest. In dieser surrealen Welt ist manches unheimlich und bedrängend, es gibt aber auch viele Momente leiser Komik und handfester Groteske.
Eingespieltes Ensemble
Serebrennikov greift neben den beiden Hauptfiguren auf Kräfte aus seinem früheren Gogol-Center Moskau zurück, die eine eingespielte Truppe und geübt darin sind, die Präsentationsformen elegant zu wechseln. Da wird getanzt, gesteppt und exzellent gesungen, auch mehrstimmig, einmal sogar das „Cruzifixus“ aus Bachs h-Moll-Messe.
Auf der Bühne befindet sich ein rundes Karussell-Podest, das zur Kutsche wird, aber auch eine Raumkapsel sein könnte. Über der Bühne ist eine große Leinwand installiert, und auf halber Höhe gibt es zwei kreisrunde Screens, die Bilder aus den gläsernen Kosmonautenhelmen der beiden Hauptpersonen übermitteln. Es gibt enorm viel zu sehen, dennoch folgt der Abend einem vitalen Rhythmus, der einen Bilder-Overkill verhindert.
Serebrennikov bleibt nah am Originaltext und reiht in seiner Textfassung die besonders plastischen Episoden der Erzählung aneinander. Dass sich die kafkaeske Kutschenfahrt am Ende etwas zieht, ist kein Betriebsunfall, sondern volle Absicht. Schließlich heißt das Ziel des Doktors und seines herzensguten Kutschers „Langenweiler“.
Ohne plumpe Aktualisierungen zu bemühen, bringen Sorokin und sein Regisseur auf subtile Weise den russischen Wahnsinn aus Fatalismus, Trägheit, Suchtpotenzial und Unterwürfigkeit auf die Bühne. Der Schneesturm wird dabei selbst eine poetische Figur aus Schneeflocken und dem tanzenden, neunköpfigen Ensemble, flankiert von der suggestiven Livemusik von Malika Maminova. Ovationen für alle Beteiligten, besonders für Sorokin.
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