Postsowjetisches Theater: Staatliche Identität
In Marina Davydovas „Museum of Uncounted Voices“ streiten sich am Berliner HAU ehemalige Sowjetstaaten über den Verlauf der Geschichte.
Das Ende der Geschichte, wie Francis Fukuyama es ausgerufen hat, ist nicht eingetreten. In Saudi-Arabien und Iran regieren Machthaber repressiv, auch China und Russland schieben Demokratie und Meinungsfreiheit lieber in die westliche Ecke.
Wie wichtig die Geschichte für die Identitätsbildung von Staaten ist, hat die Autorin und Regisseurin Marina Davydova zum Kern ihres Stückes „Museum of Uncounted Voices“ gemacht, das am Mittwoch im HAU Berlin-Premiere (davor in Wien und Freiburg) feierte und Auftakt für das Festival „Voices“ ist, das einen Fokus auf Inszenierungen von Autor:innen aus der Ex-Sowjetunion legt. Davydova, die sich in Russland in Opposition zum Krieg gegen die Ukraine stellte und das Land daraufhin verlassen musste, lädt in Berlin zur Geschichtsstunde.
Wie Russland zum größten Land der Erde wurde, erzählt ein pathetischer Erzähler aus dem Off. Russland habe nie Land eingenommen, lernt man, sondern stets „zurückerobert“ – auch wenn diese angeblichen Ansprüche auf vormongolische Zeiten zurückgehen.
Herrschaftsobjekte bebildern die Siegesgeschichte des Landes. Durch das so aufgeklappte Museum (Bühne: Zinovy Margolin) können Zuschauer:innen die Bühne betreten, Vitrinen studieren, sich von autoritären Erzählstimmen belehren lassen.
Wenn Nationen sprechen
In dem in Episoden unterteilten Stück sprechen als Zweites die Nationen. Eine Tür öffnet sich und „die Ukraine“ erzählt die Geschichte der Kyiwer Rus, körperlos über Lautsprecher. Belarus, Armenien, Aserbaidschan und Georgien stimmen mit ihren jeweiligen Geschichtsschreibungen ein, streiten sich über den Ausgang von Kriegen, über die Bedeutung von Genoziden und Gebietsverlusten.
Sie tun das als Wandschränke, in denen Trachten die nationalen Unterschiede symbolisieren. Das wirkt genauso veraltet wie ihre bis in die vorchristliche Zeit zurückreichenden Streitereien unsinnig; die Lebensrealität der Armenierinnen und Belarussen bemisst sich heute eher am Internetzugang und am Grad der Korruption, denn an mittelalterlichen Landkarten.
Bis hierhin hat die einzige Schauspielerin (Chulpan Khamatova, im Wechsel mit Marina Weis) noch immer nichts gesagt. Der einzelne Mensch ist unwichtig angesichts jahrhundertealter Herrschaftsansprüche. In Davydovas Erzählung klingt es so, als sei die ehemalige Sowjetunion das komplizierteste Gebilde der Welt.
Willkürliche Grenzziehungen
Dabei ist die Weltgeschichte eine der willkürlichen Grenzziehungen: Man schaue sich nur an, welche Auswirkungen das Sykes-Picot-Abkommen bis heute im Nahen Osten oder die rechtwinkligen Grenzverläufe in Afrika mit sich bringen.
Ob die Bedeutung, die man nationalen Erzählungen und Kriegsverlusten beimisst, nicht weniger mit realen, verletzten Gefühlen denn mit dem Lebensstandard zu tun hat, der sich unter Nationalismus besser verschleiern lässt, ist eine Frage, die Davydova so direkt nicht stellt. Der Unterschied zwischen Regierenden und Regierten droht angesichts der personifizierten Nationalstaaten unter den Tisch zu fallen.
Davydovas eigene Geschichte findet ebenfalls Eingang ins Stück. Als Tochter eines Armeniers in Baku geboren, floh sie 1990 während des Pogroms an den Armenier:innen nach Moskau. Ein Pogrom, das aufgrund der Tragweite eines Ereignisses 1991 fast in Vergessenheit geriet; dem Zerfall der UdSSR. Belarus, das als Wandschrank an seine Protestwelle 2020 erinnert, hat leider recht: Die Welt, sie hat ein kurzes Gedächtnis.