Kirche und Missbrauch: Das Treffen mit dem Peiniger
Lange hat Samuel U. den Missbrauch verschwiegen. Nun ist er bereit zu reden - auch mit dem Täter. Eine Erklärung oder Entschuldigung bekommt er nicht.
Noch Jahre später blutet er bei jedem Stuhlgang. Auf einer Reise ist die Blutung so stark, dass Samuel U. den Urlaub abbrechen muss. Wegen der nicht heilenden Verletzung des Schließmuskels droht eine dauernde Inkontinenz. Der Junge ist ein Einzelgänger, hat kaum Freunde. Er wird immer schlechter in der Schule, bekommt Depressionen. Mit 13 Jahren unternimmt er einen Suizidversuch.
Nur durch eine geglückte Operation nach langen Jahren der Schmerzen und der Scham bleibt Samuel ein Leben in Windeln erspart. Die Ursache des Leids: mehrfache anale Penetration durch einen Priester. Der Täter bleibt ungestraft. Es ist Pfarrer Hans J. aus dem Bistum Essen.
Ein einstöckiger weißer Bau, ein paar Jahrzehnte alt. Er liegt in einem ruhigen Wohngebiet der eher unteren Mittelklasse. Hier wohnt Pfarrer J. Der Eingang des Hauses liegt etwas versteckt hinter mannshohen Rhododendronbüschen. Vor dem Gebäude steht eine kleine, recht moderne Backsteinkirche, dahinter der kirchliche Kindergarten. Kindergeschrei weht herüber. Samuel will seinen Peiniger mit dessen Taten noch einmal konfrontieren. Nach so vielen Jahren.
Rechtsfertigungstirade
Es ist ein Versuch, Samuel sucht das Gespräch. Ohne Anmeldung. Nach einmaligem Klingeln öffnet sich die Tür. Pfarrer J. steht darin. Es ist ein noch ziemlich stattlicher Mann von 80 Jahren, weiße Haare, Brille, grau gestreifter Pullover, schwarze Hose. Der Pfarrer ist im Ruhestand. Sein Opfer Samuel U., mittlerweile Ende 40, steht vor der Tür. Nach kurzem Zögern bittet Pfarrer J. ihn hinein, ebenso den Fotografen und den Reporter, der sich vorgestellt hatte.
In der Bundesrepublik sind mehrere tausend junge Menschen, meist Jungen, in den vergangenen Jahrzehnten Opfer sexueller Gewalt durch katholische Priester oder Kirchenmitarbeiter geworden. Die deutsche Bischofskonferenz hat Anfang März angeboten, jedem Opfer bis zu 5.000 Euro als Entschädigung für das erlittene Leid zu zahlen. Maximal.
Die katholischen Kirchen von Österreich und Irland haben stattdessen in den vergangenen Jahren fünfstellige Beträge an die Opfer gezahlt - in den USA gingen diese Summen zum Teil in die Hunderttausende. (ges)
In der Wohnung fallen vor allem die vielen christlichen Devotionalien ins Auge: ein großes Holzkreuz im Flur, überall an den Wänden Bilder mit biblischen Motiven, mal das Christuskind, mal die Madonna oder ein Engel. Ein Spruch auf einer kleinen Tafel neben der Tür zum Büro verkündet: "Gott ist die Liebe". Noch im Flur und im Stehen fängt Pfarrer J. an, sich zu rechtfertigen: Er sei "fest überzeugt", dass er sich "in keinster Weise" Samuel in sexueller Absicht genähert habe.
Vor einem Jahr sind Samuel und Pfarrer J. schon einmal zusammen getroffen. Das war im bischöflichen Ordinariat, der Verwaltungszentrale in Essen. Aufgrund der Berichterstattung in den Medien hatte auch Samuel sich ermutigt gefühlt, das Bistum anzusprechen, das dann das Gespräch organisierte. Der Pfarrer sagte damals zur Begrüßung: "So trifft man sich wegen einer Jugendsünde wieder." Neben Pfarrer J. und Samuel waren unter anderem die Bistumsbeauftragte zur Aufklärung der Missbrauchsfälle zugegen sowie ein Rechtsanwalt der Kirche.
Pfarrer J. gab damals im Ordinariat zu, dass er Samuel einmal "zärtlich am Gesäß gestreichelt" habe. Das sei aber nur ein "jugendliches Liebhaben" gewesen. Er habe sich dadurch auch nicht erregen wollen, sondern habe nur zärtlich sein wollen, so der alte Mann. Außerdem sei das Ganze nur ein einziges Mal passiert.
Wenige Tage später bekam Samuel einen Brief von der Bistumsbeauftragten. "Es war", so heißt es darin, für die Anwesenden "deutlich wahrnehmbar, welchen Schmerz Sie noch einmal durchlitten haben und wie sehr dieses Gespräch Sie emotional berührt hat". Man habe den Bischof informiert, dass der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs durch Pfarrer J. von diesem während des Gesprächs "nicht ausgeräumt werden konnte".
Pfarrer J. kann nicht viel passieren - strafrechtlich sind die Vergewaltigungen verjährt. Sie fanden Ende der Sechziger Jahre statt. Viele der zuletzt in der Bundesrepublik bekannt gewordenen Missbrauchsfälle liegen schon Jahrzehnte zurück. Das ist ein Grund - oder eine Ausrede - für die zögerliche Aufarbeitung des Missbrauchsskandals durch die katholischen Bischöfe. Mitte März haben sie sich in Paderborn zu ihrer Frühjahrsversammlung getroffen. Es gab einen viertelstündigen Bußakt zu Beginn des Eröffnungsgottesdienstes im Hohen Dom zu Paderborn.
Fehlende Empathie
Weder vor noch nach der Messe ging einer der Bischöfe hinaus, um mit den Missbrauchsopfern zu sprechen, die vor dem Dom demonstrierten. In den vier Tagen nach dem Gottesdienst stand der Missbrauchsskandal nicht mehr auf der Agenda des Kirchentreffens. Die Kirche will die ganze Angelegenheit nach einem Jahr der Krise offenbar möglichst schnell abhaken. Immerhin, außer ihr und dem Jesuitenorden hat bisher keine andere große Institution die Auszahlung von Entschädigungen in Gang gesetzt - oder überhaupt eine Summe genannt.
Samuel hat einen Brief vom Bistum bekommen. Darin wird ihm eine Entschädigung angeboten. Der Brief ist eher eine Sammlung von Formblättern, die offenbar an viele gehen. Zwar betont die Bistumsbeauftragte darin: "Die katholische Kirche will den Opfern mit Empathie begegnen." Es fehlt jedoch jedes persönliche Wort. Man habe sich ja im vergangenen Jahr bei ihr oder ihrem Stellvertreter gemeldet, heißt es in dem Schreiben. Und habe dabei mitgeteilt, "als Kind Opfer sexuellen Missbrauchs durch einen Priester, ein Ordensmitglied oder einen kirchlichen Mitarbeiter" geworden zu sein. Samuel solle jedoch noch einmal, obwohl er das schon zweimal mündlich getan hat, schriftlich schildern, wie er missbraucht wurde - möglichst auf nur einer Seite, und genau! Falsche Angaben könnten strafrechtlich verfolgt werden, warnt der Brief zum Schluss.
Auch in der Wohnung von Pfarrer J. versucht der Geistliche, die Grenzen zwischen Opfer und Täter zu verwischen. Er wird aggressiver. "Vor meinem Gewissen und vor Gott", so verkündet Pfarrer J. zweimal, versichere er: Er habe Samuel nicht in sexueller Absicht berührt und sich an ihm nicht "sexuell vergangen". Aber er habe ihm doch beim Schwimmen in die Hose gegriffen, hält Samuel dagegen. Aber das habe er doch "auch nicht immer getan", verteidigt sich Pfarrer J. Beim Gespräch im Ordinariat vor einem Jahr habe er nicht alles verstanden, weil sein Hörgerät ausgefallen sei.
Das Bistum hat Pfarrer J. das Priesteramt nicht entzogen. Er darf auch weiter im Pfarrhaus wohnen. Pfarrer J. darf sich jedoch Kindern nur noch in einer bestimmten Entfernung nähern - die kirchliche Kita liegt etwa dreißig Meter von seinem Haus entfernt.
Die Sache mit den Sakramenten ist unklar. Im Auftrag des Bischofs wurde dem Pfarrer J. vor etwa einem Jahr bis auf Weiteres untersagt, irgendeinen priesterlichen Dienst auszuüben, vor allem die Eucharistie, also das christliche Abendmahl, zu feiern. Gegen diese innerkirchliche Maßnahme habe er jedoch über seinen Anwalt Widerspruch eingelegt, sagt Pfarrer J. in seiner Wohnung. Außerdem beziehe sich dieses Verbot nur auf das Spenden der Sakramente in dieser Gemeinde, es sei kein generelles Verbot. Vor lauter Nervosität beginnt der Geistliche plötzlich damit, die Rollläden vor dem Fenster seines Wohnzimmers hochzuziehen. Im Dezember vergangenen Jahres, erklärt Pfarrer J., habe er noch einen Gottesdienst gefeiert.
Der Hobbyfotograf
Der Ton im Wohnzimmer des Pfarrer wird immer lauter. "Ich weiß, dass Sie ungeschoren davonkommen", empört sich Samuel, "Sie stellen sich hier als Opfer dar." Der Pfarrer unterbricht Samuel mehrmals, herrscht ihn an: "Halten Sie mal den Mund." Und er sagt: "Ich fühle mich nicht schuldig."
Der Pfarrer geht in einen Nebenraum, um seinen Rechtsanwalt anzurufen. Er stellt auf laut. Der Jurist war bis vor wenigen Jahren ein Berater des Bistums in Angelegenheiten des Kirchen- und Staatskirchenrechts, jahrzehntelang. Man hört das Telefon tuten. Pfarrer J. kann den Rechtsanwalt offenbar nicht erreichen. Er kommt zurück ins Wohnzimmer und verkündet, er sage nun nichts mehr ohne seinen Anwalt. "Es hat keinen Sinn." Samuel wird noch mal etwas lauter, fängt sich aber wieder. Dann fordert der Pfarrer ihn auf, die Wohnung zu verlassen.
Pfarrer J. war früher in einer anderen Gemeinde ein paar Kilometer entfernt - er wurde versetzt, als die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs laut wurden. Doch auch in der neuen Gemeinde kümmerte er sich wieder um die Jugendarbeit. In der alten Gemeinde von Pfarrer J. zeigt Samuel dem Fotografen die alte Kita, die noch heute als Kindergarten genutzt wird. An dem schwarzen Eisengeländer einer Außentreppe zu einer Kellertür bleibt Samuel stehen. "Da ging es zum Tischtennisraum, wo er mir in die Hose gefasst hat", erzählt er.
Samuel geht in den hintersten Raum der Kita. Bis auf das modernere Spielzeug sehe alles noch so aus wie früher, sagt er. "Das ist der Raum, in dem er mich vergewaltigt hat." Hier wurden Kinder damals im Dunkeln eingesperrt, wenn sie widerborstig waren. Dann kam Pfarrer J., damals noch Kaplan, herein "und hat sich um dein Wohlergehen gekümmert", wie Samuel mit beißendem Sarkasmus sagt.
Das Missbrauchsopfer geht um die große Kirche gleich nebenan herum zu einer Stichstraße. Es ist eine Sackgasse. In der Hausnummer 37a lebte früher Pfarrer J. Er war ein Hobbyfotograf und lud den jungen Samuel damals ein, sich mit ihm doch die schönen Fotos vom Urlaub mit der Jugendgruppe anzuschauen. Außerdem bekomme er dort auch etwas Schokolade. Im Fotozimmer wurde Samuel mehrmals vergewaltigt.
Auf dem Weg nach Hause wirkt Samuel erleichtert. Das Treffen mit seinem Peiniger sei "erträglich" gewesen, sagt er. "Der Schmerz ist gekippt in Ärger." Der vergewaltigte Junge von einst ist heute erwachsen. Er ist selbstständig, hat eine Lebensgefährtin und zwei Kinder. Samuel schüttelt den Kopf. "Der ist mit seinem lieben Gott im Reinen", sagt er nur. Und lacht kurz.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen