Kinski-Film "Jesus Christus Erlöser": Als der Zorn sich hochschraubte
1971 las Klaus Kinski seinen Text "Jesus Christus Erlöser". Kameras dokumentierten die Tumulte bei der Lesung. Peter Geyer hat daraus einen denkwürdigen Film geschnitten.
G anz zum Schluss, gegen zwei Uhr nachts, sitzen ihm noch 100 Zuhörer zu Füßen. Sie schauen ihn aus feuchtglänzenden Augen an, manche falten gar die Hände. Man ekelt sich ein wenig vor ihrer Unterwürfigkeit, die sich Klaus Kinski allerdings hart erarbeitet hat. Dieser Apotheose vorausgegangen sind sechs Stunden Kampf, Provokation, Verzweiflung, Aggression. Auf den Höhepunkten brüllte ein Mann aus dem Publikum: "Kinski ist ein Faschist!", und Kinski stieß einen anderen mit den Worten "Du Sau!" von der Bühne.
Am Schluss sind von 5.000 noch 100 Zuhörer übrig. Für sie beginnt Kinski seinen Abend noch einmal ganz von vorn, die Rezitation eines selbstgeschriebenen Textes von 30 Maschinenseiten mit dem Titel "Jesus Christus Erlöser". Wir sind am 20. November 1971 in der Berliner Deutschlandhalle, Kinski startet heute eine neue Tournee. Vier Kameras filmen mit. 35 Jahre später hat Peter Geyer, der seit 1999 den Nachlass von Klaus Kinski verwaltet, aus nur 135 Minuten Rohmaterial - niemand hatte kalkuliert, wie lang dieser Abend werden würde - eine 84-minütige Version geschnitten.
Ende der Fünfziger hatte Kinski als Rezitator erste Bekanntheit erlangt. 1971 ist er schon lange kein tingelnder Deklamator mehr, sondern gefeierter und gefürchteter Filmstar. Aber er will es nochmal wissen. Das Projekt "Neues Testament" hat er schon lange im Kopf, als er endlich einen Veranstalter findet, der mutig genug ist, den Jesus-Abend mit ihm durchzuziehen. Kurz bevor Werner Herzog ihn ans Set von "Aguirre" in den Urwald schleift, stellt sich Kinski also mit einer Kompilation aus Bibelzitaten und eigenen Jesus-Interpretationen auf die Bühne, mitten hinein in die peacige "Jesus Christ Superstar"-Zeit, in die bekiffte Verklärung des Hippies aus Nazareth und die redefreudige Post-68-Ära.
Mit schulterlangem Haar, roten Lackstiefelchen und einer unglaublich lächerlichen Hemdbluse tritt Kinski vor sein Publikum. Meist zeigt eine Frontalkamera ihn von vorn, was schade ist, denn Kinski spricht so in sein Mikro, dass man seinen Mund, diesen Kinski-Mund, diese Ausdrucksmaschine, fast nie zu sehen kriegt. Hochkonzentriert und achtsam artikulierend spricht Kinski von seinem Jesus, einem durch und durch minoritätsorientierten Typen, dessen Umgebung sich aus "Fixern, Zigeunern, Gammlern, Arbeitslosen und schreienden Müttern in Vietnam" zusammensetzt. Kinskis Text ist ein poetologisch durchformtes Manifest, das Manifest eines Arbeiters, eines Revoluzzers, eines Autoritätsfeindes und Reichenhassers, der aus seinen untoten Mitmenschen wieder lebendige Menschen machen will.
Nach nur fünf Minuten gibt es die ersten Zwischenrufe aus dem Publikum. "Der onaniert doch ständig in die Luft!", "Der hat ja schon seine Million vom Film!" Die Rufe mehren sich. Kinski ist irritiert. Dann wird er lauter. Er modifiziert seinen Text, richtet ihn gegen die Störer: "Jesus hat nicht nur gesagt: Halt deine Schnauze! Er hat eine Peitsche genommen und sie dir in die Fresse gehauen!" Verhöhnungslust und Zorn schrauben sich hoch. Kinski verlässt die Bühne. Kommt wieder. Fängt ganz von vorn an mit seinem Text. Doch die Leute wollen stören, diskutieren oder einfach "auch mal etwas sagen". Proportional zum ihrem Unwillen, Kunst Kunst und den Selbstdarsteller Darsteller sein zu lassen, steigert Kinski seinen Text zur flammenden Publikumsbeschimpfung. Irgendwann ist die Polizei da, und Kinski kommt erst wieder, als nur mehr ein kleines Häuflein in der Halle des Meisters harrt.
Dieser Film ist ein denkwürdiges Dokument. Einerseits führt er die paradoxale Beziehung des Künstlers zu seinem Publikum vor: Er hasst es, er braucht es, es liebt ihn, es hasst ihn. Andererseits bekommt man gezeigt, wohin allzu bereitwillig inkorporierte 68er-Forderungen - Alles ist politisch! Alle haben die gleichen Rechte, vor allem Rederechte! - postwendend auch führte: zu Kleinkariertheit, Ignoranz vor der Autonomie der Kunst, Lehrerhaftigkeit. Die Folie "Diva Kinski" lässt diese Gemengelage herrlich plastisch hervortreten.
Peter Geyer: "Jesus Christus Erlöser". Deutschland 2008, 84 Min.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste