Kindeswohl gilt nicht für Flüchtlinge: Die Schwester soll in Syrien bleiben
Kein Einzelfall: Flüchtlingsjunge darf nur seine Eltern nach Berlin „nachholen“, weil er nicht für den Unterhalt der Schwester sorgen kann.
Für seine Pläne, den Familiennachzug für Geflüchtete mit subsidiärem Schutz weiter einzuschränken, bekommt der neue „Heimatminister“ Horst Seehofer (CSU) von Linken, Grünen und Flüchtlingsorganisationen derzeit viel Kritik. Kaum bekannt ist, dass die nun diskutierten Gesetzesverschärfungen, die unter anderem den Nachzug von Geschwistern minderjähriger Flüchtlinge bis auf Ausnahmen unterbinden sollen, schon jetzt gängige Rechtspraxis sind. Dies zeigt der aktuelle Fall eines palästinensischen Jungen aus Syrien.
Der sechsjährige Nasser Al R. lebt seit mehr als zwei Jahren mit seinem Onkel in Berlin. Seine Eltern hätten nicht mitfliehen können, weil seine zwei Jahre ältere Schwester schwer krank ist, erklärt Rechtsanwältin Berenice Böhlo, die die Familie vertritt. Sie lebten in Damaskus. Weil der Junge schon in Syrien als Palästinenser anerkannter UN-Flüchtling gewesen sei, habe er in Deutschland volles Asyl bekommen. Die Eltern hätten nun von der deutschen Botschaft in Libanon Bescheid bekommen, dass sie ihre Visa abholen können – für sich, nicht aber für die Tochter.
Zur Begründung erklärt das Auswärtige Amt (AA) der Anwältin in einem Schreiben, das der taz vorliegt, für nachreisende Geschwisterkinder gelte die Vorschrift, „dass in der Regel Lebensunterhalt und Wohnraum bei Einreise gesichert sein müssen“ – eine unmögliche Anforderung an ein Kind. Ausnahmen in Einzelfällen seien zwar möglich, aber „im Fall der Familie Al R. konnte (…) zunächst keine atypische Konstellation festgestellt werden, die sich deutlich von der Vielzahl gleichgelagerter Fälle unterscheidet“.
Nun ist Nassers Schwester Bessan allerdings schwer krank. Sie leidet Tuberöser Sklerose (MRI), einer Erbkrankheit, die mit Fehlbildungen und Tumoren einhergeht und häufig durch epileptische Anfälle und kongnitive Behinderungen gekennzeichnet ist. Dies bestätigen mehrere ärztliche Atteste, die der taz ebenfalls vorliegen; dazu ein Schreiben der UN-Mission UNRWA, dass das Mädchen in Syrien wegen des Krieges und entsprechend fehlender Medikamente nicht richtig behandelt werden könne. Das AA erwidert, die Gutachten „erlauben keine ausreichende Beurteilung der Beeinträchtigung des Kindes“.
„Unnötiges Leid“
Die Berliner Ausländerbehörde hat Böhlo mitgeteilt, die Botschaft in Beirut, die den Fall geprüft hat, spreche zudem von einer „Verwurzelung der Familie in Syrien“. Laut Böhlo trifft dies jedoch nicht zu. „Die Verwandtschaft väterlicherseits lebt seit Jahren in Deutschland, Großeltern und andere Verwandte mütterlicherseits in Flüchtlingslagern in Libanon.“ Dorthin werde die kranke Bessam aber als UN-Flüchtling keine Einreiseerlaubnis bekommen – abgesehen davon, dass auch dort keine ausreichende medizinische Versorung möglich sei.
Böhlo will am heutigen Montag einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht stellen, damit auch Bessam ein Visum erteilt wird. Früher oder später dürfe das Mädchen ohnehin einreisen. Ein Elternteil könne ja nun herkommen und würde wie der Sohn als UN-Flüchtling Asyl bekommen. Dann könnten sie Ehepartner und Tochter nachholen. „Hier wird völlig unnötig Leid produziert“, kritisiert sie. Die Politik, mit einer restriktiven Visavergabe Härte zu zeigen, sei ein „menschenrechtlicher Skandal“.
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