Kinder in der Ukraine: Tanzen zur Musik des Krieges
In der ostukrainischen Stadt Charkiw trotzt eine Tanzschule dem russischen Angriffskrieg. Die Kinder lernen beim Tanzen viel über sich selbst.
Alexej Dendeberja, Natalijas Mann, ist der Gründer und Leiter des Tanzensembles. Trotz der Kälte trägt er nur Jeans und T-Shirt und läuft barfuß. Er baut gerade eine Wandhalterung für Spiegel im Tanzsaal. Die Spiegel, so erzählt er, habe Natalijas Oma von ihrer Rente gekauft. Die 86-jährige Charkiwerin hat als Kind den Zweiten Weltkrieg überlebt. „Natalija, Kinder brauchen gerade im Krieg so etwas“, erinnert sich Natalija an die Worte ihrer Großmutter. Ohne Spiegel sei es nicht möglich, Tanzschritte richtig einzuüben, sagt die Choreografin.
Bis zum russischen Großangriff auf die Ukraine im Februar 2022 trainierte die Gruppe von Natalija und Alexej in einem Raum eines privaten Gymnasiums im Norden der Stadt. Dann wurde die Schule durch russischen Artilleriebeschuss beschädigt. In den ersten Kriegsmonaten stand eine Wiederaufnahme des Tanzunterrichts nicht zur Debatte. Die Choreografen waren vom ersten Tag an damit beschäftigt, humanitäre Hilfe zu verteilen.
Begleitung durch Artilleriebeschuss
Doch trotz dieser Arbeit und trotz der ständigen Bombardierung der Stadt machte Natalija jeden Morgen Übungen für ihre Schüler, die sie live auf Instagram übertrug. Die Übungen wurden von der „Musik des Krieges“ begleitet – einer Artilleriekanonade am Rande Charkiws, wohin damals die Russen vorgedrungen waren.
Natalija Beditsch, Choreografin
Die ersten persönlichen Tanzstunden konnte Natalija erst wieder geben, als sie mit ihrem Mann einen Keller am anderen Ende der Stadt gefunden hatte. Dort trainierten sie von August 2022 bis Juni 2023. „Zuerst waren die Kinder noch sehr verängstigt und angespannt, fast alle waren zu Hause, bauten sich dort Schutzräume aus Decken und saßen vor ihren Handys“, erinnert sich die Choreografin. „Sie waren in einem innerlichen Gefahrenzustand gefangen und mussten erst Grenzen überwinden, um sich selbst wieder sicher fühlen zu können“, sagt sie. Mittlerweile hat das Ensemble den Keller wieder verlassen, das Training findet im Kulturhaus im Stadtzentrum statt.
Sie selbst tanze schon seit mehr als vierzig Jahren, erzählt Natalija. In den klassischen Tanzensembles in Charkiw seien die Beziehungen der Tänzer untereinander stark von Wettbewerb geprägt. „Aber mir ist es wichtig, in unserem Ensemble freundschaftliche Beziehungen zu fördern, damit die Kinder einander helfen“, sagt sie. „Das haben wir hier geschafft. Von außen merkt man nicht, wie lange ein Kind schon trainiert und auf welchem Niveau es ist. Sie haben ein gleichberechtigtes Verhältnis zueinander.“
Natalija und Alexej räumen den Kindern extra Zeit zum Reden sowie zum selbständigen Trainieren ein. Auch Psychotherapie für die Kinder gibt es. Bis zum Beginn des Krieges sagten Natalija und Alexej ihren Schülerinnen immer wieder, sie sollten nicht um den ersten Platz kämpfen, nicht für die Jurymitglieder tanzen, sondern in erster Linie dem Publikum gefallen.
Den inneren Reichtum begreifen
„Ich verbinde Tanz mit Psychologie. Wenn ein Mensch 'leer’ auf die Bühne kommt, entsteht etwas Wunderbares. Die Menschen müssen lernen, sich selber zu begreifen, ihre innere Welt, ihren inneren Reichtum. Darum sprechen wir viel mit den Kindern. Wir helfen ihnen, ihre Probleme zu bewältigen, damit sie nicht ihr verschlossenes Ich auf die Bühne bringen, keine Angst davor haben, dass etwas nicht klappen könnte. Die Aufgabe besteht eben auch darin, dem Publikum alles zu geben“, betont Natalija.
Die Choreografin beobachtet aber, dass der Krieg die Kinder verändert hat – und zwar nicht automatisch zum Schlechteren. „Natürlich sind die Kinder verschlossener geworden, aber gleichzeitig überraschen sie auch mit ihrer Zielstrebigkeit. Der Mangel an Echtzeitinteraktion zwischen den Kindern hat dazu geführt, dass sie viel motivierter sind. Woran man früher ein Jahr, vielleicht sogar zwei oder drei gearbeitet hat, schaffen sie jetzt in wenigen Monaten. In vier Monaten bringen wir sie jetzt auf ein semiprofessionelles Niveau“, erzählt Natalija.
Alexej ergänzt, dass es in Charkiw aktuell nur wenige Angebote für Kinder gebe, weshalb die Tanzschule für viele vielleicht der einzige Ort in der Stadt sei, an dem sie ihre Energie ausleben können.
Die beste Zeit zum Träumeverwirklichen
In diesem Jahr wird das Tanzensemble 15 Jahre alt. „Ich setze mir als wirtschaftliches Ziel für 2024, eine Kinderaufführung nach Europa zu bringen. Sie heißt ‚Als das Universum verrückt wurde‘“, sagt Natalija. Außerdem sollten die Kinder lernen, nicht auf die Zeit zu warten, in der sie ihre Träume verwirklichen. Die beste Zeit dafür sei jetzt. „Man muss auf nichts warten.“
Die Realität fordert allerdings noch anderes: Das größte Problem ist im Winter die Kälte. „Die Temperatur im Proberaum müsste auf bis zu 18 Grad erhöht werden. Aber das kostet viel Geld“, seufzt Alexej.
Aryna, eine zehnjährige Tanzschülerin, die Charkiw seit Kriegsbeginn nicht verlassen hat, trainiert erst seit vier Monaten bei Natalija. „Vom ersten Tag an hat es mir hier gut gefallen. Ich habe verstanden, dass ich auftreten, dass ich tanzen möchte. Ich möchte, dass wir so bald wie möglich einen Auftritt haben“, sagt sie. Verschämt fügt sie hinzu, dass ihre Mutter sehr zufrieden mit ihren Fortschritten sei.
Der größte Wunsch des Kindes: ein Auto für Mama kaufen – und selber auf die Bühne. „Ich möchte überall auftreten. Wo auch immer sie hinfahren, ich wäre froh mitzufahren. Ich wünsche mir sehr, dass, wenn es eine weitere Aufführung außerhalb von Charkiw gibt, ich dorthin mitfahren kann“, sagt die Zehnjährige. „Natürlich nur, wenn das möglich ist“, fügt sie unsicher hinzu.
Die Mutter von Aryna bekennt, dass sie eher zufällig in dem Tanzensemble von Natalija und Alexej gelandet sei und sich am Anfang einen solchen Eifer ihres Kindes gar nicht hatte vorstellen können. Sie weiß, wie sehr Aryna einer Aufführung entgegenfiebert. „Sie ist ein sehr schüchternes Kind, aber hier öffnet sie sich. Plötzlich hat sie sogar Freundinnen“, erzählt die Frau. Wir Erwachsene wünschen uns allerdings vor allem, dass dieser Krieg aufhört.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers