Kinder im Krieg in der Ukraine: Alte Spiele neuer Kriegskinder
Viele Kinder in der Ukraine verarbeiten das, was sie aktuell im Krieg erleben, in Rollenspielen. Ist das ein Grund zur Sorge?
Und so sind jetzt auch ihre Spiele: Sie ahmen nach, was sie sehen. Aktuelles Lieblingsspiel ukrainischer Kinder ist „Straßensperre“. Meistens dienen dazu alte Reifen oder Seile, die sie zwischen Bäume spannen. In den großen Städten gibt es solche Sperren fast in jedem Hof. Auch in meinem.
Die Kinder lassen einen erst durch, wenn man eine bestimmte Parole sagt. In der Regel sind das ukrainische Wörter, die Ausländer so gut wie nie fehlerfrei aussprechen können. Zum Beispiel: “Paljanytsja“, ein traditionelles ukrainisches Brot, “Polunytsja“, das ukrainische Wort für Erdbeere oder “Ukrzalysnytsja“, der Name des staatlichen Eisenbahnunternehmens. Auch an echten Straßensperren fordern Soldaten verdächtige Personen auf, diese Wörter richtig auszusprechen. Es ist eine Möglichkeit, russische Saboteure oder Spione zu enttarnen.
Manchmal geben die Kinder in meinem Hof allen, die die Parole korrekt aussprechen konnten, einen Wunschzettel. Es sind häufig ganz einfache Wünsche, aber es ist wohltuend und schön, mitten im Krieg solche Worte von unbekannten Kindern zu lesen.
Spielend die schlimmen Erfahrungen verarbeiten
Videos von Kindern, die Straßensperren errichtet haben und Krieg spielen, kann man häufig in den sozialen Netzwerken sehen. Die Eltern stören sich nicht an den Aktivitäten ihrer Kinder. Sie sind im Großen und Ganzen der Auffassung: Diese militärischen Spiele geben ihrem Nachwuchs die Möglichkeit, ihre Kindheit nicht ganz zu verlieren und so im Spiel das zu verarbeiten, was gerade im Land geschieht. Außerdem ist es gut, wenn sich die Kinder mal von ihren Spielkonsolen und Handys lösen und einfach mit Gleichaltrigen auf der Straße spielen.
Serhij Tkatschenko, Psychologe aus dem westukrainischen Luzk, sagt dazu: „In meiner Kindheit haben wir ‚Russen und Deutsche‘ gespielt. Das war noch so etwas wie ein Nachhall des Zweiten Weltkriegs. Diese emotionale ‚Explosion‘ war so gewaltig, dass sie noch Jahrzehnte später nichts von ihrer Stärke verloren hatte. Unsere Kinder und Enkel werden vermutlich später auch noch lange ‚Russen gegen ukrainische Armee‘ spielen. Ob diese Spiele toxisch und zerstörerisch für die kindliche Psyche sind, wird maßgeblich davon abhängen, wie die Erwachsenen versuchen werden, sie idelogisch oder politisch einzuordnen und zu bewerten.
Erwachsenenthematik in Kinderspielen kann tatsächlich toxisch für die Kinder sein, wenn Erwachsene darauf mit ihrem eigenen, erwachsenen Schmerz reagieren. Aber die kindliche Psyche nimmt intuitiv alles Überflüssig aus dem Spielkontext, was verletzen und schmerzen könnte.“
„Militärbasen“ am Straßenrand
In ländlichen Gebieten kann man häufig richtige „Militärbasen“ am Straßenrand sehen. Auf Facebook konnte man von Kindern aus dem Dorf Nowa Bassan im Gebiet Tschernihiw lesen. Sie hatten einen Monat unter russischer Besatzung gelebt. Jetzt spielen zwei Jungen, die beide Nasar heißen, und ihr Freund Wlad Krieg. Sie unterstützen die örtliche Territorialverteidigung bei der Überwachung der Straße. Die Kinder, die den echten Krieg erlebt haben, haben sich Sturmhauben über die Köpfe gezogen und notieren die Nummern aller Autos, die an ihrer improvisierten Straßensperre vorbeifahren.
Ganz in der Nähe befinden sich mehrere hölzerne Panzersperren, ein flacher Graben und eine „Feldküche“ – ein Tisch mit belegten Broten und Tee. Die Kinder haben auch einen echten Erste-Hilfe-Kasten und Armee-Trockenverpflegung. Und Spielkarten, falls es langweilig werden sollte.
Sie haben in der Umgebung die ausgebrannte russische Militärtechnik untersucht und gelernt, die auf den Feldern und an den Straßenrändern gefundenen Patronen für verschiedenen Kleinwaffen zu unterscheiden. Die Überprüfung an der Kinder-Straßensperre endet für gewöhnlich mit der nationalen Losung „Ruhm der Ukraine“ und der Antwort „Den Helden Ruhm!“„Wenn Russen kommen, werden wir schießen. Und Ihnen wünschen wir dann noch gute Weiterfahrt!“, sagt der 13-jährige Nasar zum Abschied. Diese Kinder wissen genau, wer der Feind ihres Staates ist.
Wann müssen Erwachsene eingreifen?
Kann die kindliche Psyche solche Spiele überhaupt verkraften? Oder müssten Eltern eingreifen, wenn ihre Kinder Krieg spielen. Serhj Tkatschenko meint dazu:
„Die Grenze ist dann erreicht, wenn das Spiel für einen der Teilnehmenden aufhört, ein Spiel zu sein und eine unmittelbare Verletzungsgefahr besteht. In der Tat gibt es ja schon immer alle möglichen Kinderspiele solcher Art, wie ‚Räuber und Gendarm‘ oder klassische Schnitzeljagd- beziehungsweise Fährtenleser-Spiele. Jetzt gestalten Kinder diese Spiele neu.
Man sollte eingreifen, wenn im Spielkontext Begriffe wie ‚Folterkeller‘ oder eine Aufgabe wie ‚Verhör mit Höchstgeschwindigkeit‘ auftauchen. Aber man sollte Kinderspiele nicht nur aus Erwachsenenblickwinkel betrachten. Die Psyche eines Kindes ist so formbar und anpassungsfähig, dass sie fast jeden Kontext ihren Bedürfnissen entsprechend umgestalten kann.
Wenn ein Kind beim Spielen übermäßig gewalttätig wird, ist dies in der Regel nicht das Ergebnis des Spielgedankens, sondern es manifestiert damit seinen inneren Schmerzes, ein seelisches Trauma, das durch das Spiel ausbrechen konnte. In diesem Fall sollte man einen Kinderpsychologen konsultieren.“
In der Ukraine gewöhnt man sich an kriegsbedingte Kinderspiele und an Patriotismus. Man wünscht sich aber doch von Herzen, dass dieses Spiele kein Dauerzustand werden. Denn irgendwann wird der Krieg zu Ende sein. Und kleine Ukrainer sollen dann wieder auf Spielplätzen spielen und Eis essen. Sorglos. Unter einem friedlichen Himmel.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau