Kinder- und Jugendbücher im Herbst: Nichts ist perfekt
Ein Skizzenbuch von Elisabeth Steinkellner, ein Roman von Susin Nielsen und ein Comic von Kim Fupz Aakeson erzählen von Krisen und Freundschaft.
Maia ist sechzehn Jahre alt und kann sehr gut zeichnen. Mit ihren jüngeren Schwestern, Ruth und Heidi, teilt sie sich in der beengten Zweiraumwohnung ein Dreietagenbett. Abgekämpft kehrt ihre alleinerziehende Mutter abends nach Hause. Die Vorräte, der Platz, das Geld und die Zeit füreinander – alles ist bei ihnen knapp. Ihre Gedanken über den Alltag mit der Familie und den Freunden hält Maia in ihrem Skizzen- und Tagebuch fest.
In „Papierklavier“ entwickelt die österreichische Autorin Elisabeth Steinkellner diese Coming-of-Age-Geschichte in engem Zusammenspiel mit der Illustratorin Anna Gusella als einen lebendigen Mix. In den Aufzeichnungen der heranwachsenden Protagonistin fließen Text- und Bildebenen übergangslos ineinander, kommunizieren und ergänzen sich. Ganzseitige Zeichnungen in Schwarz und Hellblau wechseln ab mit handschriftlich anmutender Typografie. Stimmungslagen verwandeln sich in feine Linien oder grobe Striche.
„Papierklavier“ von Elisabeth Steinkellner mit Illustrationen von Anna Gusella. Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim 2020. Gebunden, 140 Seiten, 14,95 Euro. Ab 15 Jahre
„Adresse unbekannt“ von Susin Nielsen mit Illustrationen von Leslie Mechanik. Aus dem Englischen von Anja Herre. Verlag Urachhaus, Stuttgart 2020. Gebunden, 284 Seiten, 17 Euro. Ab 11 Jahre
„Hugo & Hassan“ von Kim Fupz Aakeson mit Illustrationen von Rasmus Bregnhøi. Aus dem Dänischen von Franziska Gehm. Klett Kinderbuch, Leipzig 2020. 104 Seiten, 15 Euro. Ab 8 Jahre
Der Roman beginnt mit dem Tod der hilfsbereiten Nachbarin und geliebten Ersatzoma Sieglinde. Maias jüngste, sehr musikalische Schwester Heidi hat nun auch keine Möglichkeit mehr auf dem Flügel der alten Dame zu spielen.
In der Not bastelt sich das Mädchen eine Klaviatur aus Papier, während Maia mit Doppelschichten in einem Saftladen versucht, neben der Schule noch Geld für den Musikunterricht aufzutreiben. Oft übernimmt die Sechzehnjährige die Verantwortung für die jüngeren Schwestern, um ihre Mutter zu entlasten. Doch auch wenn Maia von einem Leben mit weniger Problemen träumt, fühlt sie sich in ihrer Familie, so wie sie ist, gut aufgehoben.
Außerdem gibt es noch Alex, die mit ihr die gleiche Klasse besucht, und Carla, die offiziell eigentlich Engelbert heißt. Ihnen kann Maia zu hundert Prozent vertrauen. Gemeinsam hinterfragen sie gesellschaftliche Normen und Schönheitsideale, die so wenig mit ihrer eigenen Realität zu tun zu haben scheinen. Mit genügend Selbstvertrauen und an der Seite ihrer Freundinnen sucht Maia ihren eigenen Weg im Leben – weit davon entfernt, perfekt zu sein.
Große Herausforderung
Auch das Zuhause von Felix Knutsson in Susin Nielsens ereignisreichen Roman „Adresse unbekannt“ ist alles andere als komfortabel. Seit Monaten schon lebt der Zwölfjährige mit Astrid, seiner Mutter, und Horacio Blass, der Rennmaus, in einem geborgten Campingbus in Vancouver. Was im Sommer wie ein verlängerter Urlaub und eine willkommene Abwechslung begann, verwandelt sich für den Jungen spätestens mit dem neuen Schuljahr und beginnenden Herbst in eine riesige Herausforderung.
Längst ist Felix klar, dass seine psychisch labile Mutter wieder in einer tiefen Krise steckt, sie weder Geld hat noch Arbeit finden wird. Doch Astrid hat ihrem Sohn nicht nur in die verschiedenen Kategorien der Lüge eingeführt, sondern ihm auch von klein auf eingeschärft, sich niemanden anzuvertrauen. Die Fürsorge würde sie beide sofort voneinander trennen.
Einfühlsam schildert die kanadische Kinderbuchautorin die Erfahrung von Obdachlosigkeit sowie die Scham und Erschöpfung angesichts der prekären Situation altersgerecht aus Felix’ Perspektive. Der spannend erzählte Roman beginnt mit einem Verhör auf der Polizeiwache. Rückblickend berichtet der Zwölfjährige von dem wechselhaften Leben mit Astrid und von ihrer Zeit im Bus. Sie benutzen die Toiletten am Strand, das kostenlose WLAN in der Bibliothek und die Duschen im Gemeindezentrum.
Doch trotz aller Anstrengung die Situation zu verbergen, entdecken Dylan und Winnie, Felix’ ungleiche Freunde an der neuen Schule, irgendwann seine Notlage. Gemeinsam schmieden die drei Außenseiter einen abenteuerlichen Plan, um das Schicksal des aufgeweckten Jungen zu ändern. Fieberhaft trainieren sie für „Wer, was, wo, wann“, bis Felix schließlich im Finale der beliebten Quizsendung steht.
Großsprecher und Raufbolde
Temporeich und witzig verhandelt der dänische Comic „Hugo und Hassan“ den urbanen Alltag der achtjährigen Protagonisten zwischen Computerspiel, Ramadan und Hipstertum. Hugo und Hassan lernen sich im Hinterhof ihres rot geklinkerten Wohnblocks kennen. Bald sind die beiden Großsprecher und Raufbrüder unzertrennliche Freunde. Aufmerksam beobachten sie ihre Umgebung. Mit Beanie und Basecap auf dem Kopf stürmen sie los: Fünfmeter-Sprungturm oder Halloweengrusel – fließend sind die Übergänge zwischen Hybris und Kleinmut.
Ihr Dilemma fasst Hugo im Sandkasten liegend philosophisch zusammen: „Man ist zu klein für das, was man gerne machen möchte, und das, wozu man groß genug ist, möchte man nicht.“ Andererseits verzweifeln die beiden immer wieder an der Weltfremdheit der Erwachsenen. Als Hugos Mutter in die Zockpartie platzt, um die Jungs an die frische Luft zu treiben, wundert sich Hassan: „Weiß sie überhaupt, was online bedeutet?“
Realitätsnah und kurzweilig gelingt es Autor Kim Fupz Aakeson zusammen mit Illustrator Rasmus Bregnhøi auch in Episoden über Karatekurse, Stiefväter oder Flaschenpfand, die Erlebniswelt und Freundschaft der beiden Jungs in all ihren Facetten festzuhalten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball