„Kiezblock“ kommt in Reinickendorf: New Kiez on the block
„Kiezblocks“ halten Autoverkehr aus Vierteln heraus, das Konzept wird immer populärer. Im beschaulichen Hermsdorf haben es BürgerInnen erstritten.
Wenn mal kein Auto kommt, wohnt Michael Ortmann in der ruhigsten Ecke Berlins. Ganz oben im Reinickendorfer Norden, direkt an der Landesgrenze, fällt das Sonnenlicht durch dichte Lindenkronen und auf die Dächer der Einfamilienhäuser. Gleich um die Ecke liegt der kleine Hermsdorfer Waldsee, Erich Kästner hat hier mal ein paar Jahre gewohnt. Sonst ist in dieser Gegend angenehm wenig los.
Allerdings kommen fast immer Autos. Vor allem an Wochentagen schieben sie sich durch das Waldseeviertel, verstopfen die schmalen Straßen, lassen sich nicht vorbei, hupen, bremsen, fahren an. Das zerrt an den Nerven: „Nicht der Lärm ist das eigentliche Problem, sondern die Aggression“, sagt Ortmann auf einem Spaziergang durch den Kiez, „die Leute stehen sich Nase an Nase gegenüber und schreien sich an, dabei wohnen sie fünf Kilometer weiter nebeneinander im Grünen.“
Das Problem: Die Schildower und die Elsestraße, die nach Glienicke/Nordbahn gleich nebenan führen, wurden nach dem Mauerfall im Gegensatz zu anderen Nebenstraßen für den Autoverkehr geöffnet. Seit vielen Jahren dienen sie PendlerInnen als Schleichweg in die Berliner Innenstadt, und es werden immer mehr – immerhin hat sich die Bevölkerung der Nachbargemeinde seit 1990 vervierfacht. Anstatt die von der Verkehrsplanung vorgesehene Route über die B96 zu nehmen, versuchen sie, ein paar Minuten zu sparen.
Ob das im Einzelfall funktioniert, ist fraglich, schließlich versuchen es ja so gut wie alle. Das Nachsehen haben in jedem Fall die BewohnerInnen des Waldseeviertels, aber auch der Wohnstraßen auf Glienicker Seite, die keine Lust auf Gebrumm, schlechte Stimmung und erhöhtes Unfallrisiko haben: „Die Polizei hat hier mal Geschwindigkeitsmessungen durchgeführt“, sagt Ortmann, „dabei wurde im Schnitt 44 Stundenkilometer gefahren – in der Tempo-30-Zone!“ Den Vogel schoss ein Fahrer mit 93 km/h ab.
AnwohnerInnen auf beiden Seiten der Landesgrenze, die das nicht mehr ertragen wollten, wurden schon 2011 aktiv, erzählt die Rechtsanwältin Susanne Tiefenthal, die gleich hinter dem gelben Ortsschild auf Glienicker Seite wohnt. „Damals ist aber alles verhallt. Die Gemeinde Glienicke/Nordbahn hat bis heute kein Interesse, das zu ändern – es ist ja für viele ganz komfortabel und somit auch gewünscht.“
Transparente an Gartenzäunen
Aber der Leidensdruck blieb. 2014 gründete sich beiderseits des einstigen Grenzstreifens die Bürgerinitiative „Schildower Straße“. Jahrelang versuchte sie, sich Gehör zu verschaffen, sprach mit PolitikerInnen, hängte Transparente an ihre Gartenzäune: „Ihr krasser Irrtum: Dies ist keine Durchfahrtstraße!“ Die AutofahrerInnen ignorierten es, die Glienicker Gemeindevertretung schaltete auf Durchzug, nur Reinickendorf reagierte – ein bisschen. Mit Pollern und Kunststoffschienen wurden die Straßen verengt, gebracht hat es nichts.
Das Ziel der Initiative: Die Schildower Straße soll für den privaten Autoverkehr geschlossen werden, nur noch FußgängerInnen, Fahrräder und Einsatzfahrzeuge sollen durchkommen. Geht gar nicht, finden die GegnerInnen: Die Verkehrsströme seien durch die Berliner Straße, wie die B96 hier oben heißt, gar nicht zu bewältigen.
Um das Gegenteil zu beweisen, führte die Initiative eine eigene Verkehrszählung durch und kalkulierte den Durchfluss auf der Hauptverkehrsstraße, ohne Schleichweg. Dass Ortmann Mathematikprofessor an der Beuth-Hochschule ist, schadete dabei nicht. „Unsere Untersuchung hat ergeben, dass zwei Drittel des Berufsverkehrs über die Nebenstraßen verlaufen“, sagt er, „und ich habe nach den Regeln der Kunst ausgerechnet, dass der Verkehr auf der B96 keineswegs zusammenbricht, solange man dort die Umlaufzeiten der Ampeln erhöht.“
Den Durchbruch brachte dann Ende vergangenen Jahres die Unterstützung durch Berlins rührigsten Mobilitätsverein, Changing Cities e. V.: „Die trommeln ja für ihr Konzept der Kiezblocks und meinten: Hey, was ihr da wollt, das ist ja auch einer“, erinnert sich Ortmann: „Und weil mittlerweile in Glienicke der Widerstand gegen unsere Kampagne wuchs, konnten wir einen großen Bruder ganz gut gebrauchen.“
Ungewünschten Verkehr einfach rausfiltern
Changing Cities und seine „fahrradfreundlichen Netzwerke“ in den Bezirken sehen in Kiezblocks einen Schlüssel für die Verkehrswende. Die Idee ist simpel: Kieze sollen durch den physische Barrieren vom Pkw-Durchgangsverkehr befreit werden. Autos gelangen im Prinzip weiterhin überall hin, müssen aber über den Weg zurück, auf dem sie gekommen sind. Weil Fahrräder passieren können, dank technischer Lösungen wie versenkbarer Poller aber auch der BVG-Bus oder der Krankenwagen, ist von „Modalfiltern“ die Rede – sie sortieren nur unerwünschte Verkehrsarten aus.
„Kiezblocks sind ein sehr wirksames, kostengünstiges Instrument, das den Verkehr effektiv und eindeutig lenkt“, sagt Changing-Cities-Sprecherin Ragnhild Sørensen. Dem Bild einer Stadt voller Sackgassen tritt sie entgegen: „Es geht nicht darum, dass sich die Leute nicht mehr fortbewegen sollen. Mit einer Stärkung des Umweltverbunds, wie sie im Mobilitätsgesetz festgeschrieben ist, werden die Wege kiezblockübergreifend schneller, bequemer und sicherer.“ Also attraktive Fuß- und Radwege und ein gutes ÖPNV-Angebot, wie es das Gesetz von 2018 ohnehin vorschreibt.
Die Kiezblock-Idee ist die Berliner Version eines Verkehrskonzepts, mit dem in Barcelona schon länger experimentiert wird. „Superblocks“ („Supermanzanas“ auf Spanisch oder „Superilles“ auf Katalanisch) werden sie dort etwas metropolentauglicher genannt. Fünf davon gibt es bereits, Hunderte sollen es einmal werden. Nach Angaben des Ajuntament, der Stadtverwaltung, sind die Erfolge der ersten Blocks eindeutig: Um bis zu 82 Prozent sei der Autoverkehr in den Straßen des Sant-Antoni-Superblocks zurückgegangen, heißt es auf ihrer Webseite. Dafür flanieren dort mehr Menschen und genießen die feinstaubreduzierte Luft.
So neu ist die Idee mit den Modalfiltern in Berlin übrigens nicht: Schon 2003 wurde eine Diagonalsperre im Neuköllner Richardkiez angebracht, um den Schleichverkehr zwischen Sonnenallee und Karl-Marx-Straße zu unterbinden. Nach einem Jahr war es schon wieder vorbei damit: Es hatte zu viele Beschwerden gegeben. Stattdessen führte man Tempo 10 im alten Rixdorfer Ortskern ein. Daran hält sich kein Mensch.
Vermutlich ist jetzt einfach die Zeit reif. Als Changing Cities im November zu einem Workshop in Pankow einlud, auf dem potenzielle Kiezblocks vorgeschlagen werden sollten, kamen über hundert Interessierte. Anschließend ging eine Liste mit 18 Blocks an das Bezirksamt – was dieses daraus macht, ist offen.
So wie die Zukunft des Kreuzberger Bergmannkiezes: Nach der umstrittenen Begegnungszone mit ihren dottergelben „Parklets“ und den berüchtigten „grünen Punkten“ sprach sich bei einer AnwohnerInnenbefragung im Herbst eine Mehrheit überraschend für die komplette Verkehrsberuhigung des Kiezes rund um den Marheinekeplatz aus. Der damalige Verkehrsstadtrat Florian Schmidt versprach ein Konzept. Kurz darauf ging die Zuständigkeit an Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann über, und dann kam auch noch Corona.
Zurzeit ist vom Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg nicht mehr zu erfahren, als dass die Ergebnisse der Befragung „von der Fachabteilung bearbeitet“ werden. Derweil startete an anderer Stelle schon eine neue Initiative: ein Einwohnerantrag für einen Kiezblock zwischen Görlitzer Park und Landwehrkanal. Damit sich die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) damit befasst, müssen 1.000 Unterschriften gesammelt werden – was kein Problem sein dürfte.
Zurück ins Waldseeviertel: Hier haben die AnwohnerInnen um Michael Ortmann und Susanne Tiefenthal mittlerweile einen Erfolg erkämpft: Die Reinickendorfer BVV empfahl dem Bezirksamt im Mai ohne Gegenstimmen, „temporäre Modalfilter (zum Beispiel in Form von massiven Blumenkübeln) zu installieren“. Die Ampelschaltungen auf der B96 sollten optimiert werden, dann solle eine offizielle Verkehrszählung Erfolg oder Misserfolg des Verkehrsversuchs prüfen.
Enthalten hat sich allein die SPD – offenbar aus Rücksicht auf die Genossen in Glienicke/Nordbahn. Die halten von der Maßnahme noch weniger als die anderen KommunalpolitikerInnen jenseits der Doppelreihe aus Pflastersteinen, die die einstige Grenze zwischen Westberlin und DDR markiert. Letztere dient übrigens den Durchfahrt-Fans als Gratis-Argumentationshilfe: Die Wessis wollen die Mauer wieder aufbauen!
Die Mauer war etwas anderes
Michael Ortmann findet solche Aussagen absurd: „Mauer und Grenzzaun waren dann doch noch etwas anderes als ein Verkehrshindernis für Autos“, sagt er. „Wer diesen Vergleich bemüht, verhöhnt letztlich die Menschen, die an dieser Grenze gestorben sind.“
Passiert ist in der Schildower Straße seit dem BVV-Beschluss noch nichts. Das liegt daran, dass das Bezirksamt dem Prinzip „Verkehrsversuch“ zu misstrauen scheint und das Ergebnis im Grunde schon vorher erfahren will: „Bevor dieser Aufforderung nachgekommen werden kann, müssen die Auswirkungen auf das umliegende Straßennetz untersucht werden“, teilt Bezirksstadträtin Katrin Schultze-Berndt (CDU) der taz mit. „Daher lässt das Bezirksamt ein Verkehrsgutachten über die aktuellen Verkehrszahlen ermitteln, eine Prognose aufstellen und untersuchen, wie sich die Verkehrsströme neu ausbilden und wie diese das vorhandene Straßennetz belasten würden.“
Man ist im Reinickendorfer Rathaus aber auch auf Rechtssicherheit bedacht: Die GegnerInnen wollen vors Verwaltungsgericht ziehen, wenn die Blumenkübel aufgestellt werden. „Dass das Bezirksamt hier vorbauen will, dafür haben wir Verständnis“, sagt Michael Ortmann. „Aber nach so vielen Jahren wollen wir unbedingt verhindern, dass das Thema wieder auf die lange Bank geschoben wird.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Vorschläge für bessere Schulen
Mehr Führerschein wagen