Kesselfleisch: Bis es fast zerfällt
Früher landete bestimmtes Fleisch bei Hofschlachten sofort in heißem Wasser, weil es verderblich war. Heute macht unser Wirt daraus eine Delikatesse.
Z uerst hielt ich die Ofenklappe in meiner neuen Kochstelle für etwas mickrig. Es passen gerade mal ein paar kleine Holzscheite hindurch. Doch vor ein paar Minuten habe ich zwei nachgelegt und nun brodelt der Topf mit den halben Schweinsköpfen auf einmal wie Lava. Dabei sollte er doch bloß simmern.
Meine neue Kochstelle ist gebraucht, aber gut gepflegt. Vom Prinzip her ist es ein einfacher Werkstattofen, nur in Form eines runden Zylinders, mit Schamott ausgekleidet. Dort hinein passt ein Emaillekessel, größer als meine Karpfenfritteuse. Er fasst sicher 100 Liter. Es gibt sogar noch größere.
Der neue Ofen hat nur einen Zweck: Kesselfleisch zu kochen. Vor ein paar Wochen habe ich es das erste Mal gegessen, bei einer Kirchweih in einem zugigen Festzelt, mit Kraut, einer Scheibe Brot und einem Krug Kellerbier: Herz, Zunge, Backe und etwas Bauch, alles vom Schwein, alles in einem würzigen Sud so lange gekocht, bis es fast zerfällt. Ich war begeistert. Kesselfleisch ist die gelebte Erinnerung an Herbst- und Wintertage, wenn der Metzger zur Hausschlachtung auf den Hof kam und wenig später das Schwein, das man die letzten Monate gepäppelt hatte, in zwei Hälften an einem Balken hing.
Diese Schlachtungen waren – den Fotos nach, die mir davon zugänglich sind – Männersache. Es ging darum, das Fleisch für die nächsten Monate zu konservieren, also Schinken und Speck einzusalzen, vor allem aber die verderblichsten Teile zu verarbeiten. Die Innereien und der Kopf wanderten in den großen Topf, gekocht ergaben sie mit Blut und Schwarte die Zutaten für Blut- und Leberwurst, Presssack und Sülze.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Während die Männer an den Schlachttischen dampfende Fleischteile für die Wurstfülle in kleine Stücke schnitten, war Naschen ausdrücklich erlaubt. Das gemeinsame Wursten ist der Ursprung dessen, was heute Kesselfleisch genannt wird.
Ohne fancy Soße
Man muss es als Luxus empfinden, wenn man es genießen darf, ohne gleichzeitig arbeiten zu müssen. Vielleicht erklärt das die puritanische Darreichung. Zum Kesselfleisch gehört weder Senf noch irgendeine fancy Sauce, weder Klöße noch Kartoffelsalat. Es reichen Sauerkraut, Brot, Pfeffer und Salz, habe ich, der Städter, erklärt bekommen.
Und was, wenn nun der Städter Kesselfleisch anbietet? So stehe ich am Ofen und lege diesmal nur ein Scheit Holz nach. Gleich sollen die Schweinebäuche in den Sud. Ich halte mich sehr genau an den Kanon. Aus Versehen sind mir in den Kessel nur ein paar getrocknete Chilis gefallen. Und ich konnte nicht anders: Ich musste Apfelmeerrettich herstellen. Mal sehen, wer zugreift.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland