„Krieg und Frieden“ am Theater Magdeburg: Kein bisschen Frieden
Mammutroman auf vier Stunden Spielzeit: Charly Hübner gibt am Theater Magdeburg sein Debüt als Theaterregisseur mit „Krieg und Frieden“ nach Tolstoi.
„Es wird ein Theaterspektakel“, verspricht Charly Hübner im Gespräch über sein Regiedebüt am Theater Magdeburg. Durch die Türen im Foyer dringen derweil laute Polizeisirenen, die gerade noch im Feinschliff angepasst werden vor der Premiere am Abend. Das mit dem Debüt ist zunächst eine Überraschung, denn Hübner, geboren 1972 in Neustrelitz, hat eigentlich schon alles gemacht.
Als Schauspieler ist er besonders dem Hamburger Schauspielhaus verbunden, hat im Rostocker „Polizeiruf 110“ den Kommissar Bukow gegeben, zu den Bands Feine Sahne Fischfilet und Element of Crime hat er Dokumentarfilme gemacht, andere Filme gedreht und natürlich Bücher geschrieben. Ein Tausendsassa, aber die Theaterregie fehlte ihm noch. „Ich wollte entweder Schauspieler, Musiker oder Regisseur werden, und beim Ersten hat es dann erst mal am besten geklappt“, sagt er, obwohl er auch als Musiker durch die Republik tourt.
Bastian Lomsché, seit 2023 Teil des dreiköpfigen Leitungsteams der Schauspielsparte in Magdeburg und zuvor Dramaturg am Hamburger Schauspielhaus, fragte ihn dann, ob er sich nicht vorstellen könne, in Magdeburg Regie zu führen. Zunächst gab es die Idee zu einem Magdeburgmusical, dann war ein Shakespeare im Gespräch. Aber mit dem Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine war für Hübner klar: Es muss ein russischer Autor sein – und was liegt näher als Lew Tolstois Mammutroman „Krieg und Frieden“?
Roland Schimmelpfennig, ebenfalls ein Bekannter aus Hamburg, hatte den Roman eh schon mal zu einer Version zusammengeschrieben, und so stand der Debütarbeit nichts im Wege, die aber auch gleich in die Vollen geht. „Wir sind zeitlich genau da rausgekommen, wo wir wollten“, sagt Hübner – also bei vier Stunden inklusive Pause.
„Krieg und Frieden“: Theater Magdeburg. Wieder am 15.06.
Slapstick-Kabarett
Hübner lässt das Stück ganz im Heute beginnen. Eine Familie trifft sich in einer Plattenbauwohnung, die Bühnenbildner Alexandre Corazzola leicht schief, aber echt mit Mufuti und Wachsdecken in die Kammer 1 gebaut hat.
Hier trifft zu Nicoles „Ein bisschen Frieden“ das rechtskonservative Alphamännchen samt Frau auf linke Staatsanwältin und Punk – die Geschwister – und ihre Kinder als HipHopper und Bundeswehrsoldat zusammen, um die (Groß-)Mutter zum 80. Geburtstag zu überraschen. In diesem Slapstick-Kabarett überschlagen sich erst die Ereignisse, und dann erschlägt sich die Familie angesichts unüberbrückbar Differenzen.
Alle werden zu Tolstoi-Figuren und müssen erst einmal vorgestellt und in Russland verteilt werden: Du in den Krieg, du aufs Land, du nach Moskau. Auch das Geflecht von Liebschaften und Verheiratungen braucht seine Zeit, bis es voll entwickelt ist.
Und da zwar alle im zehnköpfigen Ensemble mehrere Rollen spielen, aber keine doppelt besetzt ist, darf Rainer Frank als zugleich Braut- und Bräutigamsvater schön komisch eine potenzielle Ehe mit sich selbst verhandeln – und scheitert. Das alles auf weitgehend leerer Bühne, aber in schön zeitgeschichtlich angepassten Kostümen von Clemens Leander.
Schlachtbeschreibungen wie bei Heiner Müller
Doch dann bricht das Spektakel los. Zu den Kriegsszenen wird das Bühnenskelett vom Anfang wieder flimmernd aufgefahren. Es gibt chorische Passagen, Düsteres und Krachendes, aber auch satirische Leichtigkeit, etwa bei einer Duellszene. Manche Schlachtbeschreibung fühlt sich an wie aus einem Heiner-Müller-Stück. Besonders Nora Buzalka als einzige Hosenrolle Pierre hält die philosophischen Fäden in der Hand und wird für die Zuschauenden zu einem Anker für Nachdenklichkeit bis zu ihrem herzzerreißenden Monolog über ein französisches Erschießungskommando.
Drum herum sterben, töten, lieben und betrügen die anderen formvollendet: Auf den größten Schmerz kann der größte Witz folgen. Selbst Helmut Kohl hat noch seinen fulminanten Auftritt zwischen Zar Alexander und Napoleon, wenn der große Feldzug des kleinen Franzosen als Ursünde des modernen Europas erklärt wird, obwohl mit Kants Idee vom ewigen Frieden schon damals Alternativen formuliert waren. Der Schluss gehört dem Familienfrieden. In einer Grillidylle performt das Ensemble HipHop mit Songs, die Hendrik Bolz, bekannt durch Zugezogen Maskulin, und Johannes Aue beigesteuert haben.
„Wir bringen hier etwas, was viel zu groß ist. Da kannst du nur verlieren“, befindet Hübner lachend vor der Premiere. Er ist eben auch noch sein schärfster Kritiker, doch trotz mancher Längen in den historischen Familienpolitiken wächst der Abend gerade in seinen dunklen Momenten zu echter Größe heran und kommt dabei der Gegenwart verdammt nahe.
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