: Kein Glück in Las Vegas
Am Sonntag lässt sich Kameruns Präsident Biya wiederwählen, aber an den Problemen vieler Menschen geht diese Wahl vorbei. Ein Besuch bei Kriegsvertriebenen
Aus Douala Helena Kreiensiek
„Vorsicht“, warnt Yvonne Kabuoi. „Hier rutscht man leicht aus“, sagt sie und steigt auf einen Autoreifen, der auf dem Schlammdeich liegt, um Fußgängern ein kleines bisschen trockenen Untergrund zu geben. Links und rechts vom aufgeschütteten Wall rinnt Wasser, langsam und zäh. In der Regenzeit wird „Las Vegas“ regelmäßig überschwemmt.
Das Viertel in Kameruns Hafenstadt Douala hat wenig mit der US-amerikanischen Glitzerstadt zu tun. Notdürftig zusammengezimmerte Holzbaracken säumen den aufgeweichten Wall, erreichbar nur über schmale Balken. Der rutschige Matsch reicht mindestens knöchelhoch. Mit einem Stock in der Hand testet Yvonne Kabuoi jede Stelle, bevor sie den nächsten Schritt macht. Sie will um jeden Preis vermeiden, in das bräunliche Gemisch aus Fluss- und Abwasser zu rutschen.
Warum das Viertel ausgerechnet „Las Vegas“ heißt, kann niemand beantworten. „Weil hier alle ihr Glück suchen“, wirft eine Bonbon-Verkäuferin im Vorbeigehen ein und lacht schallend über ihren eigenen Witz. Glück, aber vor allem Sicherheit, ergänzt Yvonne Kabuoi.
Sie alle sind vor dem Krieg in Kameruns englischsprachigen Provinzen Nordwest und Südwest nach Douala geflohen, Kameruns größte Stadt. 400 Menschen leben in dem informellen Viertel. Die meisten sind Witwen mit ihren Kindern. Ihre Männer haben sie in der „Krise“ verloren, erzählt Yvonne Kabuoi, Auch sie ist Witwe und kümmert sich allein um ihre vier Kinder. „Es ist eine lange Geschichte“, sagt sie und winkt ab. Seit zwei Jahren ist sie in „Las Vegas“.
Seit 2016 sind die Bewohner der anglofonen Regionen im Kreuzfeuer zwischen der Armee und separatistischen Gruppen gefangen, die Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch spricht von 6000 Toten, Hunderttausende mussten fliehen. Sämtlichen Akteuren werden schwere Verbrechen vorgeworfen, auch sexuelle Gewalt.
Am Sonntag 12. Oktober wählt Kamerun einen neuen Präsidenten. Der Wahlsieg von Amtsinhaber Paul Biya gilt als sicher, da sein letzter Hauptgegner Maurice Kamto diesmal nicht antreten darf und Kamerun seit jeher sehr autoritär regiert wird. Kamtos Partei unterstützt jetzt Exminister Issa Tchiroma.
Mit 92 Jahren ist Paul Biya der älteste amtierende Staatspräsident der Welt. Er regiert Kamerun seit 1982 und tritt jetzt für eine neue siebenjährige Amtszeit an Die letzte Wahl 2018 gewann er mit 71,3 Prozent. Öffentlich tritt Biya sehr selten auf; seinen einzigen geplanten Wahlkampfauftritt hat er am Dienstag im Fußballstadion der nordkamerunischen Stadt Maroua absolviert. Das Stadion hat 25.000 Plätze, nur wenige hundert Menschen kamen.
„Gerade erst hat eine junge Frau Zwillinge zur Welt gebracht“, erzählt Kerin Nkogdem Ngwa, Bewohnerin von „Las Vegas“. Die junge Frau war in der anglofonen Region vergewaltigt worden und floh nach Douala. „Wir sind gerade dabei, eine Vereinigung zu gründen, und wollen Frauen, denen sexuelle Gewalt widerfahren ist, so besser unterstützen“, erzählt die siebenfache Mutter.
Die Wurzeln des separatistischen Kampfes reichen bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1961 und der Gründung eines kamerunischen Staates im Jahr 1972 zurück. Damals wurden die ehemals britischen und französischen Gebiete vereint. So erklärt es sich, dass bis heute in den Provinzen Nordwest und Südwest auch heute noch Englisch gesprochen wird, während der Rest Kameruns Französisch spricht. Die sprachliche Barriere und kulturelle Unterschiede, gepaart mit dem Gefühl, konsequent von der französischsprachigen Regierung in Yaoundé benachteiligt zu werden, waren Teil einer komplexen Gemengelage, die 2016 dazu führte, dass Proteste ausbrachen, die 2017 schließlich in einem bewaffneten Kampf mündeten.
Kerin Ngwa floh 2017 aus ihrer Heimatstadt Bamenda, als dort die ersten Schüsse fielen. Irgendwann hörte sie von unbewohntem Land am Fluss in Douala, ein Sumpfgebiet, und bat die Besitzer um Erlaubnis, sich hier niederzulassen. „So ist Las Vegas entstanden“, erzählt sie. Seither wird sie auch „Mutter der Vertriebenen“ genannt und ist eine Art Gemeindevorsteherin. Gibt es Konflikte, schlichtet sie, gibt es Neuigkeiten, ist es ihre Rolle, sicherzustellen, dass alle informiert sind. Sie haben sich selbst organisiert, schichten Wälle auf – und haben sogar Geld zusammengelegt, damit endlich eine Stromleitung in ihr Viertel gelegt wird.

Ein bisschen Unterstützung habe es durch die Menschenrechtsorganisation „Reach Out“ gegeben, berichten die versammelten Frauen. Die kamerunische NGO setzt sich für Frauen und Kinder in Konfliktgebieten ein und unterstützte auch die Witwen von „Las Vegas“. Doch seit Dezember 2024 ist „Reach Out“ von der Regierung suspendiert und sämtliche Aktivitäten liegen brach. Vorgeworfen werden der NGO illegale Finanzflüsse und Terrorfinanzierung: Wer in den anglofonen Regionen tätig ist, gerät schnell unter Generalverdacht.
Kerin Ngwa und die Witwen von „Las Vegas“ müssen jetzt also selbst sehen, wie sie klarkommen. „Unser größtes Problem ist, dass wir zwar im Wasser leben, aber trotzdem kein Trinkwasser haben“, sagt sie und weist auf die versumpfte Fläche neben dem Weg. Zu sehen ist dort ein Holzverschlag: das Plumpsklo, das direkt in den Wassergraben führt. Mit dem verschmutzten Wasser wird man Cholera und Malaria nicht loswerden.
Neben der Sorge um Schulgebühren, die Gesundheit ihrer Kinder oder der Frage, wie man das sumpfige Wasser aus den Holzhütten heraushält, gibt jetzt ein weiteres Problem: Kameruns Präsidentschaftswahlen am 12. Oktober. „Die Erde wird beben“, prophezeit Kerin Ngwa und macht sich Sorgen, was wohl an dem Tag passieren wird. Douala ist als Oppositionshochburg bekannt. Die Sicherheitskräfte dürften hart durchgreifen, wenn es dazu Anlass gibt.
Aus „Las Vegas“ wird an dem Tag wohl niemand das Viertel verlassen. Auch nicht, um wählen zu gehen. „Das geht uns nichts an“, heißt es einhellig in der Frauenrunde. „Ob wir wählen oder nicht, die Frage ist doch eher: Was werden wir essen?“
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