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■ Kaum jemand redet davon, viele rechnen insgeheim damit – daß Deutschland ab September von einer Großen Koalition regiert wirdGroße Koalition, kleine Reformen

Sie müssen alle von Zeit zu Zeit darüber reden und sie im Brustton der Überzeugung als einen Demokratieschaden verwünschen. Doch der Weg von der real existierenden Großen Koalition, die derzeit in Bonn regiert, zu ihrer Besiegelung mit Ämterverteilung und Amtseid wird kurz sein. Ein Dutzend Parlamentssitze hin oder her, vielleicht das Verschwinden einer kleinen Partei, allenfalls der Verzicht eines oder beider der derzeitigen Kanzlerkandidaten. Sonst muß nicht viel aufgebracht und geopfert werden, damit das Bündnis des Nichtsiegers mit dem Verlierer perfekt gemacht werden kann. Wenn es dann soweit sein sollte, werden die beiden wenig Skrupel haben.

Die real existierende Große Koalition, die seit rund einem Jahrzehnt herrscht, besteht in der beidseitigen Abwesenheit von unterscheidbarer Politik auf allen großen Feldern. Von der Föderalismus- und Finanzreform bis zur politischen Gestalt für Europa, von der Arbeits- bis zur Rentenpolitik, von der Steuerreform bis zur Industriepolitik – nirgends haben die beiden Großen eine strategische Position, ein selbsterworbenes Profil, das ihnen im Wege stehen würde. Das gilt auch, die Regierungspraxis würde es sofort bestätigen, für die Wirtschaftspolitik. Beide denken heute im selben liberalen Grund- und Einheitsmuster, reagieren auf die gleiche Weise auf die jeweiligen Imperative der Märkte.

Das Publikum, das die real existierende Große Koalition seit langem vor Augen hat, zögert einstweilen: Was wäre, wenn sie denn schon ins Amt kommen müßte, damit gewonnen? Da gibt es zwar die Minderheit derjenigen, die sich an den Erfolg der ersten rot-schwarzen Koalition von 1966 bis 1969 erinnern und wiederum glauben, nur im Gemeinschaftswerk der beiden Stärksten könnten die großen Reformaufgaben angegangen werden. Schließlich braucht es für vieles auch Verfassungsänderungen und entsprechende Mehrheiten. Sie können nicht recht überzeugen. Nur noch wenige wissen etwas von der Kiesinger-Brandt-Koalition der späten sechziger Jahre, und wenn auch nunmehr jeder Oberschüler vom sogenannten Reformstau spricht: würden selbst zwanzig aufeinandergepackte Muskel-Schröders aus beiden Parteien entscheidend mehr politische Potenz aufbringen?

Dann gibt es die bunte Minderheit der entschiedenen Gegner. Dazu gehören zunächst alle Parteiapparate, auch die schwarzen und die roten. Diese wären kaltgestellt, alle Macht säße in der Regierung und in den Fraktionen. Was noch links ist in Deutschland, muß ohnehin dagegen sein. Denn die übermächtige Mitte stünde, das liegt in der Natur solcher Koalitionen, auf der rechten Seite und ließe kaum Luft zum politischen Atmen.

Gar für die Grünen bedeutete es das moralische Ende. Ihr ganzes Projekt der parlamentarischen Partei käme zuschanden. Denn es würde wieder einmal klargestellt, daß in Deutschland immer und von jeher Mitte-rechts regiert wird und daß alle kurzen Unterbrechungen bisher dazu gedient haben, diesen Machtort wiederherzustellen. Die grüne Idee, das würde nun demonstriert, bedurfte einer Mogelpackung. Und Oppositionspartei gegen die Koalition zu sein, diese Rolle enthielte für die Grünen, anders als damals für die FDP, keine Perspektive, sie würden daran zerbrechen.

Aber wenn nun einmal, auch gegen die Wünsche der Wähler und der Parteien, das Urteil auf Rot- Schwarz lauten sollte: Wären die Chancen für ein kleineres Reformieren, zumindest für Not- und Teilsanierungen, nicht immer noch größer als mit einer dünnen rot- grünen Parlamentsmehrheit? Könnten, auch wenn es für Größeres nicht reichte, nicht wenigstens Renten- und Steuerreform, Entlastung der Lohnkosten und dergleichen nicht bald um ein Stück weitergebracht werden? Und sogar der Mineralölpreis ließe sich leichter erhöhen als unter einer rot-grünen Regierung. Ist schließlich nicht auch 1966 angesichts der leichten Konjunkturdelle, die alles ausgelöst hatte, schnell eine politische Reformlust und Reformkraft entstanden, die eine Reihe von unerträglichen Blockaden beseitigen konnte?

Nein, leider kann man von der ersten Großen Koalition nichts lernen, sie taugt nicht als Vergleichsmaßstab. Denn die politische Welt, so konservativ ihre Formen geblieben sind, hat sich seitdem völlig verändert. Und die Zwänge des Regierens sehen heute völlig anders aus als damals.

1966 ging es darum, die wohlfahrtsstaatliche Ordnung zu vollenden, um tatsächliche Modernisierung, also auch um Verstärkung des Staates. Zudem konnte die Rechte nur mit Hilfe der Koalition allmählich aus der selbstgewollten Gefangenschaft der Hallsteindoktrin befreit werden, also aus der Leugnung der DDR-Realität. Wie genau oder ungenau auch beides damals geplant worden sein mag, es glückte das meiste und schuf der bundesdeutschen Politik für ein knappes Jahrzehnt Bewegungsfreiheit. Nicht zuletzt konnte so die Sozialdemokratie zur Regierungsfähigkeit erlöst werden.

Heute dagegen, in der nach- wohlfahrtsstaatlichen Zeit, müßte das Handeln einer Koalition eine Verminderung, eine Schwäche des Staates bezwecken: Wie jetzt die Rahmenbedingungen durch Europa und die Weltmärkte gesetzt sind, könnte kaum anderes herauskommen. Gerade ein energisches Regieren nach den liberalen Geboten sollte ja den Rückzug der Regierungsmacht zum Resultat haben. Eine starke Regierung würde gebraucht, um sich selber ein wenig überflüssiger zu machen. Und damit auch das repräsentative System, die parlamentarische Parteidemokratie.

Wo 1966 politische Gestaltung der Gesellschaft vonnöten und am Ende auch erfolgreich war, bleibt 1998 nur die selbstauferlegte Sterilität, das bloße Manipulieren in den trägen Gleichgewichten der alten Institutionen. Denn diese, das wäre Überlebensgebot, dürfen nicht gestört werden. Das will ohnehin keine der Parteien, auch die Grünen wollen es nicht. Die Große Koalition wäre die unverblümteste Bestätigung, daß sich alle nur weitermogeln wollen.

Das heißt auch, daß Rot- Schwarz die Spaltung der Gesellschaft in haves und have-nots erst recht festschreiben müßte. Dem endlichen Bankrott käme man mit der Großen Koalition schneller nahe als mit Rot-Grün oder noch einmal mit Schwarz-Gelb. Wer nur noch auf das Heilmittel der großen Krise setzen kann, und die Begründungen dafür werden mit jedem Jahr besser, sollte sich also gleich den Zwang zur Großen Koalition herbeiwünschen. Er führte am einfachsten zum Offenbarungseid. Claus Koch

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