Kapitalismuskritik am Wohnungsmarkt: „Das Problem an der Wurzel packen“
Ist „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ eine sozialistische Bewegung? Eine Standortbestimmung mit dem Historiker und Kampagnensprecher Ralf Hoffrogge.
taz: Herr Hoffrogge, kehrt mit der Kampagne „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ die Arbeiterbewegung zurück?
Ralf Hoffrogge: Ja und nein. Wir sind keine Arbeiterbewegung, vertreten keine Arbeiteridentitäten; bei uns kann jeder unabhängig von der beruflichen Tätigkeit mitmachen. Aber wir vertreten die Leute, die lohnabhängig sind und ihren Lohn in Form der Miete an die Konzerne abdrücken müssen. Die Eigentumsfrage, die wir stellen, ist der Kern von Klassenpolitik: Welche Gruppe kann über den Wohnraum verfügen? Die Mehrheit der Bevölkerung oder die Minderheit, die einen Eigentumstitel hat?
Es geht Ihnen um den Kapitalismus als System?
Der Witz ist, dass die Verhältnisse auf dem Wohnungsmarkt gar nicht mehr industriekapitalistisch, sondern feudalistisch sind. Im Feudalismus konnten jene, die die Landrechte besaßen, die Leute ausbeuten und etwa die Bauern vom Land vertreiben. Aus dieser ursprünglichen Enteignung, die die Bauern in die Produktion zwang, ist der Kapitalismus erst entstanden. Im heutigen Spätkapitalismus haben wir dieses Feudaleigentum im Grunde wieder, weil die Konzentration von Eigentum so enorm hoch ist. Mit dem kapitalistischen Mythos, dass Eigentum und Leistung zusammenhängen, hat das nichts mehr zu tun.
41, Sprecher der Kampagne DW Enteignen und dort aktiv in der Vergesellschaftungs-AG. Widmet sich als Historiker schwerpunktmäßig der Geschichte der Arbeiterbewegung; zurzeit arbeitet er an seinem Habilitationsprojekt zu Gewerkschaften und Krisen. Hoffrogge lebt in einer Genossenschaftswohnung in Neukölln.
In welcher geschichtlichen Tradition stehen Sie mit der Forderung nach Enteignung?
Schon in der Novemberrevolution von 1918/19 wollten die Arbeiter- und Soldatenräte enteignen, den Bergbau etwa, auch ohne Gesetz. Das ist dann nicht gemacht worden. Es folgte der Kompromiss der Weimarer Verfassung von 1919: Das Eigentum wird geschützt, aber es darf vergesellschaftet werden, wenn es ein Gesetz und eine Mehrheit dafür gibt. 1949 wurde dieser Kompromiss auf Druck der SPD ins Grundgesetz übernommen. Politisch gibt es also eine direkte Linie von der Arbeiterbewegung der alten Sozialdemokratie bis zum Vergesellschaftungsartikel 15. Auch wenn sich die Mieter*innenbewegung heute auf das „rote Wien“ bezieht, wo zwar nicht enteignet, aber der Markt so stark reguliert wurde, dass die Stadt günstig kaufen konnte, steht sie in der Tradition reformsozialistischer Vorstellungen. Daher ist es auch kein Zufall, dass Verdi und die IG Metall Berlin uns unterstützen.
Ist die Kampagne eine sozialistische Bewegung?
Es gibt viele von uns, die mit Sozialismus nichts zu tun haben. Man muss kein politisches Bekenntnis ablegen, um bei uns mitzumachen, nur das Ziel der Vergesellschaftung von Wohnraum teilen. Auch zur sozialen Marktwirtschaft gehört ein öffentlicher Sektor, der Grundbedürfnisse versorgt. Dieser muss erst wieder hergestellt werden.
An Enteignung hat aber seit Bestehen des Grundgesetzes niemand gedacht.
Niemand hat den Vergesellschaftungsartikel angewendet. Die Möglichkeit dazu hatten lange ausschließlich die Bundes- und Landesregierungen. Da gab es nicht die nötigen Mehrheiten oder den Mut. Auch Rot-Rot-Grün würde von sich aus nicht an Sozialisierungen denken. Unsere neue Situation ist, dass wir diese gesetzgeberische Möglichkeit mit dem modernen demokratischen Mittel der Volksabstimmungen anstoßen können.
Wie kam es zu der Idee, Wohnungskonzerne zu vergesellschaften?
Als Erstes hat das Kotti und Co. formuliert, 2016 in einer Broschüre und einem Gastbeitrag für die taz. Die Interventionistische Linke hat das aufgenommen in ihrer Broschüre „Das rote Berlin“. Und im Protest der Deutschen-Wohnen-Mieter gab es auch immer wieder Stimmen: „Eigentlich müsste man mal …“ Aus diesen Gruppen und Resten des Mietenvolksentscheids von 2015 entstand „Deutsche Wohnen & Co enteignen“.
Was ist Ihre Rolle dabei?
Ich war ein wenig beim Mietenvolksentscheid engagiert, und die Enteignungsidee spukte mir wie vielen anderen auch schon im Kopf herum. Nach dem Tegel-Volksentscheid der FDP stand dann die Frage im Raum, ob es statt dieses undurchführbaren Etikettenschwindels auch eine sinnvolle Möglichkeit gäbe, das Mittel „Beschluss-Volksentscheid“ zu nutzen. Ich gehörte da zu der Fraktion, die darauf gedrungen hat, dass man das nicht als Diskurskampagne macht, sondern mit einer gesetzlich umsetzbaren Perspektive verbindet. Befreundete JuristInnen haben uns dann bestärkt in dem Plan, uns ausschließlich auf Artikel 15 zu beziehen. Als Historiker habe ich mich später in die programmatische Arbeit eingebracht und mit der Frage beschäftigt, was nach der Enteignung kommt.
Und?
Wir knüpfen an das Konzept der Gemeinwirtschaft an, also demokratisch verwaltete Unternehmen im öffentlichen Eigentum. Bis in die 1980er Jahre war das die Antwort der bundesrepublikanischen Gewerkschaften auf die Frage, wie Wirtschaft eigentlich aussehen sollte. Das hört man nicht mehr seit dem Doppelschlag aus der Pleite der „Neuen Heimat“ 1981 und der Entpolitisierung nach dem Fall der DDR. Danach traute sich die sozialdemokratische, gewerkschaftliche Linke nicht mehr, so etwas zu fordern.
Darüber, wie Wohnungen anders verwaltet werden könnten, wird kaum gesprochen.
Es stimmt, das spielt in der Debatte eine zu geringe Rolle. Die Leute, die der Mietenwahnsinn betrifft, sind verzweifelt. Die wollen einfach diese Last der drückenden Miete und die Angst vor der Obdachlosigkeit loswerden. Und die Leute, die gegen unsere Initiative sind, wollen natürlich nicht, dass es Alternativen zum Markt gibt. Sobald das denkbar ist, käme ja vielleicht jemand auf die Idee, das umzusetzen, und dann verlieren die Leute, die vom jetzigen System profitieren, ihre Privilegien.
Wird die entscheidende Debatte jene über die Entschädigungskosten sein?
Ja, auch wenn die konkrete Auseinandersetzung bislang vermieden wird. Kein Wirtschaftswissenschaftler hat auch nur versucht, unser Kostenmodell nachzurechnen. Wir sagen: Wenn man die Entschädigung nicht nach Verkehrswert ansetzt, sondern niedriger, dann finanziert sich das Ganze durch Mieteinnahmen von selbst. Wir würden uns auf eine Konfrontation mit Gegenpositionen freuen, aber da kommt nichts. Stattdessen wird mit dieser unsinnigen Zahl von 36 Milliarden Euro Entschädigungssumme hantiert, die eigentlich durch eine Manipulation in die Welt gekommen ist.
Wieso das?
Die Kostenschätzung des Senats von 2019 enthielt diesen Wert als rechnerische Anfangsgröße für den Fall einer Entschädigung des kompletten Marktwerts. Sie kam aber zu dem Schluss, dass spekulative Wertsteigerungen abzuziehen sind, und landete dann bei 28,8 Milliarden. Statt der Kostenschätzung wurde aber den Medien zunächst nur eine Zusammenfassung durchgestochen. So wurde aus einer rechnerischen Grenze eine tatsächlichen Zahl. Gleichzeitig werden die Mieteinnahmen verschwiegen – die Senatskostenschätzung liest sich, als ob die Wohnungen Minus machen. Wenn das so wäre, warum haben Vonovia und Deutsche Wohnen sie dann gekauft?
Wir hart wird der Gegenwind für Sie noch?
Unsere Gegner*innen wollen keine sachliche Auseinandersetzung. In einer Sachdebatte haben sie nicht viel auf der Hand. Die Deutsche Wohnen hat nicht gebaut, nichts für die Mieter*innen getan, sie verwaltet nicht effizienter. Die neoliberale Argumentation, dass privat besser wäre, greift nicht. Es ist teurer, das Angebot ist schlechter, der Service ist im Eimer, man erreicht niemand. Wieso sollte jemand dieses Produkt kaufen? Nur weil man muss, weil man gezwungen ist zu wohnen.
Ist Ihre Forderung radikal?
Radikal in dem Sinne, dass wir das Problem an der Wurzel packen. Während der Mietendeckel ein Symptom kuriert und verbietet, zu viel Miete zu nehmen, wollen wir die Ursachen kurieren, also dass die Wohnungen an der Börse gehandelt werden. Dieses grundsätzliche Nachdenken über andere Wirtschaftsformen wird oft als illegitim abgetan, obwohl es ja Verfassungsrang hat. Dass unsere Forderungen, die eher aus der Tradition der Sozialdemokratie kommen, nun als linksradikal bezeichnet werden, sagt wenig über uns aus – aber viel über die Entpolitisierung der Gesellschaft nach 30 Jahren Neoliberalismus.
Ihre Forderungen werden von der SPD aber nicht unterstützt.
Die SPD von heute hat Identitätsprobleme und muss sich ihre eigenen Ideale von der Mieter*innenbewegung hinterhertragen lassen. Große Illusionen hatte ich da auch nicht, aber ein bisschen mehr müsste schon noch kommen. Immerhin haben 2019 40 Prozent der SPD-Delegierten auf dem Landesparteitag unser Begehren unterstützt, also stimmt es nicht, dass die ganze SPD das ablehnt. Von diesen 40 Prozent erhoffe ich mir jetzt ein bisschen mehr Mut. Gerade haben die Jusos mit einem Unterstützungsbeschluss ein bisschen den Kopf herausgestreckt – vielleicht kommt da noch was.
Wer muss gewonnen werden, um schlussendlich erfolgreich zu sein?
Da ist schon viel passiert, aber wir müssen noch weiter raus aus Neukölln/Kreuzberg und der aktivistischen Blase. Wir gewinnen auch nur quer zu den Parteien, also wenn wir auch die 30 Prozent der CDU-Wähler*innen ansprechen, die uns laut einer Umfrage auch gut finden. Diese Aufgabe, in die Breite der Stadt zu gehen, ist durch Corona extrem erschwert. Es fehlen die großen Demos, die Stadtfeste, alles was Straßen- und Basispolitik ausmacht. Die Zahl bislang gesammelter Unterschriften stimmt mich aber optimistisch.
Was wäre die gesellschaftspolitische Bedeutung eines Sieges?
Es wäre ein wirklicher Schritt in Richtung demokratischer Deglobalisierung; dass man Kapital von den Finanzmärkten herunternimmt und in einen lokalen Wirtschaftskreislauf einspeist, wo es als Gebrauchswert dem Bedürfnis nach Wohnen dient. Aus Geld mehr machen ist kein Bedürfnis, sondern eine Perversion, ein Leerlauf, der niemandem nützt. Unser Erfolg würde Berlin davor retten, eine Stadt des Kapitals zu werden, und hätte eine Signalwirkung, dass man eine weltoffene Stadt auch als regionale Geneinwirtschaft denken kann. Ein Leuchtturmprojekt.
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