Kanzler Scholz im Baltikum: „Ein Angriff auf uns alle“
Scholz und die baltischen Ministerpräsidentinnen setzen auf traute Einigkeit. Woher das Geld für die Brigade in Litauen kommen soll, bleibt unklar.
In Deutschland gilt Scholz als Zögerer, der im Zweifel Rücksicht auf Eskalationsrisiken nimmt, anstatt entschlossen Panzer und Marschflugkörper zu liefern. Es scheint somit zwei Scholz-Bilder zu geben: den vorsichtigen Zauderer – ein Bild, das manche Grüne und die Union zeichnen – und den Scholz, der ein paar Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt aus einem Radpanzer steigt, um sich ein Nato-Manöver anzuschauen, bei dem ein imaginierter Feind besiegt wird.
Den Kanzler gibt es demnach in doppelter Ausführung: als bedächtig, abwägende Willy-Brandt-Version zu Hause und als energische Helmut-Schmidt-Version in Osteuropa, der markige Sätze nicht scheut. Am Montagabend sagte der Kanzler, man werde als Nato im Baltikum „jeden Zentimeter“ verteidigen.
Vor Kurzem noch warfen baltische Politiker Berlin vor, es an Unterstützung mangeln zu lassen und über Osteuropa hinweg auf Moskau zu starren. In Berlin hielten manche die baltischen Ängste vor Russland für verständlich, aber übertrieben. Die atmosphärischen Störungen scheinen der Vergangenheit anzugehören. Man ist sich einig darin, dass man Russland international isolieren müsse. Die Profite der im Westen eingefrorenen russischen Gelder sollen schnell dazu genutzt werden, Waffen für die Ukraine zu kaufen. Es geht dabei um Milliarden.
Bisher unvorstellbare Sätze fallen
Unterschiede zwischen Deutschland und den baltischen Ländern gibt es dennoch. Alle drei Ministerpräsidentinnen halten „den Sieg der Ukraine über Russland“ für nötig. Scholz vermeidet diese Formel, um nicht zu aggressiv gegenüber Moskau zu wirken und keine Erwartungen zu wecken, die mögliche Verhandlungen am Ende des Krieges belasten könnten. Aber das ist wohl ein semantischer Unterschied. Und kein Symbol für unterschiedliche strategische Einschätzungen der Lage. Die Analyse ist gleich: Russland bedroht langfristig die Sicherheit der europäischen Demokratien. Die litauische Ministerpräsidentin lobte Deutschlands Verteidigungsausgabe als vorbildlich für andere Nato-Staaten. Auch dieser Satz wäre vor zwei Jahren kaum vorstellbar gewesen.
Der neue Berlin-Baltikum-Konsens lautet, die Gefahr aus dem Osten mit Abschreckung zu bannen, ohne eine Konfrontation zu provozieren. Das Mittel dazu ist die Bundeswehr-Brigade. 2027 sollen knapp 5.000 deutsche SoldatInnen jeden Zentimeter Nato-Gebietes verteidigen. Zum Vergleich: Die litauische Armee verfügt über rund 15.000 SoldatInnen. Es ist die erste dauerhafte Stationierung einer so großen Bundeswehreinheit jenseits deutscher Grenzen.
Damit wird die Bundesrepublik für das Baltikum eine ähnliche Rolle spielen wie die USA für Westdeutschland vor 1989. Nämlich die einer Schutzmacht, die Abschreckung garantiert. Diese neue Rolle ist in Deutschland, wo man sich lieber mit langwierigen Debatten um die Lieferung von einzelnen Waffensystemen an Kyjiw beschäftigt, noch nicht begriffen worden.
Aber dies wird passieren. Denn die neue Abschreckungspolitik kostet extrem viel Geld und wird Verteilungskonflikte mit sich bringen. Die Etablierung der deutschen Brigade wird Berlin mehr als 10 Milliarden Euro kosten. Woher das kommen soll, ist unklar. In Litauen gibt man 2,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts für Militär aus und wird zusätzlich Milliarden Euro lockermachen müssen, um die Infrastruktur für die deutsche Brigade zu bauen. Der Streit um das Geld, in Litauen, in Deutschland, zwischen Deutschland und Litauen kommt noch. Und er wird hart.
Das ist erst der Anfang. Die USA werden abrupt, wenn Trump die US-Wahl im November gewinnen sollte, oder mittelfristig ihr militärisches Engagement in Europa deutlich reduzieren. Scholz kündigte in Riga an, Berlin werde langfristig 2 Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgeben. Realistisch betrachtet, wird das nicht reichen. Wie die Politik der Abschreckung ohne Konfrontation finanziert werden soll – ohne die Schuldenbremse entschieden zu lockern und ohne rabiate Einschnitte ins soziale Netz –, ist unklar. Zu Zeiten des Kalten Krieges gab die Bundesrepublik knapp 4 Prozent des BIP für Militär aus.
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