Kampfradler in Berlin: Regelverstöße, die Leben retten
Diese Kampfradler fahren ständig über Rot. Unser Autor weiß: Sie tun es für ihre Sicherheit. Und weil Fahrräder eigentlich gar keine Ampeln brauchen.
BERLIN taz | Das Mahnmal für den deutschen Kampfradler ist 1,45 Meter hoch und misst 13 Zentimeter im Durchmesser. Silbergraues, rundes Metall. Oben ein orangegelber Kasten. „Bitte berühren“ steht da unter einem Fahrradsymbol. Tut man das, leuchtet es rot: „Signal kommt“.
Seit die Kreuzung von Acker- und Torstraße in Mitte vor gut einem Jahr umgebaut wurde, steht dieser Metallpin gut zwei Meter vor der Ampel. Auf den ersten Blick könnte man meinen: Wow! Da hat sich ja mal jemand was gedacht! Ein Extraservice für Radler! In Wirklichkeit werden Radfahrer hier diskriminiert und für dumm verkauft.
Erstens: Warum eigentlich sollen Radfahrer nur auf Antrag Grün bekommen, während Autofahrer automatisch bedient werden? Halb so schlimm, könnte man einwenden: Denn zweitens schaltet die Ampel immer nach 51 Sekunden um – ob jemand den Knopf gedrückt hat oder nicht. Das ist – man verzeihe die drastische Sprache – eine Verarschung. Zum Glück kommt man drittens als Radler gar nicht in Versuchung, den Knopfdruck zu vollziehen: Der Pin steht auf dem Bürgersteig. Hinter einem meist zugestellten Parkstreifen.
Am Sonntag demonstriert der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club (ADFC) mit der 37. Fahrradsternfahrt für bessere Radverkehrsbedingungen. Voriges Jahr nahmen laut ADFC rund 250.000 Menschen an der Demo teil.
Diese führt auf 19 Routen rund 1.000 Kilometer durch Berlin. Highlight sind wie immer die ausnahmsweise befahrbaren Autobahnabschnitte A 115 (Avus) und A 100 (Südring). Die Sternfahrt endet gegen 14 Uhr am Großen Stern, wo sich das Umweltfestival der Grünen Liga am Brandenburger Tor anschließt. (taz)
So wie bei der „Bedarfslichtzeichenanlage“ an der Ackerstraße hat man häufig nur auf den ersten Blick den Eindruck, in Berlin habe sich viel getan. Ja, Radspuren sieht man immer öfter. Aber erstens ist das Radwegnetz immer noch Lichtjahre davon entfernt, diese Bezeichnung – „Netz“ – zu verdienen, es sei denn, man spielte auf die Löcher an. Und zweitens entstehen neue Spuren kaum dort, wo sie gebraucht werden, sondern dort, wo sie den Autoverkehr nicht stören. Andernfalls enden sie gern nach wenigen Metern wieder.
Bewundern lässt sich dieser Murks am Rosenthaler Platz, in den fünf Straßen einmünden. In genau einer gibt es seit 2011 eine Radspur. Und selbst die beginnt erst rund 100 Meter vor der Ampel und leitet ihre Nutzer hinter der Kreuzung auf den Bürgersteig – mitten in die Menge Wartenden an der Straßenbahnhaltestelle, die sich dann über die vermeintlichen Rüpelradler erregen.
Fazit: Nicht der Kampfradler ist wahnsinnig, sondern das Verkehrssystem, in dem er sich abstrampelt. Und deshalb muss er sich seinen Weg durch den Straßendschungel täglich selbst suchen. Ja, erkämpfen. Wer in Berlin auf dem Sattel sitzt, wird zum Kampfradler – oder er schiebt.
ADFC ohne Courage
Doch ausgerechnet der ADFC, die Lobby aller Radler, leugnet seine Existenz. „Ich kann keine Kampfradler erkennen“, sagte ADFC-Rechtsreferent Roland Huhn vor einem Jahr. „Es gibt keine Kampfradler“, meinte Berlins ADFC-Chefin Eva Maria Schell wenig später in der taz. Dabei könnte der ADFC so etwas sein wie der legale Arm der Guerilla. Aber dafür fehlt die Courage. Der Verein wird auch an diesem Sonntag wieder mit seiner jährlichen Sternfahrt glänzen. Ein großartiges Event, unbenommen. Doch leider so politisch, so kämpferisch wie einst die olle Loveparade.
Zum Glück gibt es Peter Ramsauer (CSU). Seit Jahren warnt der Bundesverkehrminister vor der „Verrohung der Kampfradler“. Im Verkehrssicherheitsreport 2011 definierte er das Problem: „Unverkennbar gibt es eine deutlich wahrnehmbare Gruppe von Radfahrern, die nicht der Meinung sind, dass rote Ampeln, Vorfahrtregelungen und sogar Geschwindigkeitsbegrenzungen in Ortschaften auch für sie gelten.“
Recht hat er, der Minister! Zumindest in der Berliner Innenstadt. Hier kann man das an jeder beliebigen Kreuzung sehen. Wenn bei einer roten Ampel kein Querverkehr kommt, bleiben wie viele Radfahrer gesetzestreu stehen? Ziemlich exakt: null.
Ein Ärgernis kann das aber nur aus der Windschutzscheibensicht eines Autofahrers sein, der einen abgaslosen Radler an sich vorbeizischen sieht, während er selbst Teil eines Staus ist. Ja, der Automobilist muss sich am Rotlicht orientieren. Für ihn wurde es ja erfunden.
Radfahrer bräuchten keine Ampeln. In einer utopischen Stadt ohne motorisierten Verkehr würde „Rechts vor Links“ reichen. Denn Radler sind wendig, stets im Fluss, wie Fische im Schwarm. Dynamisch und selbstverantwortlich nutzen sie jede Gelegenheit für den Fortschritt und schaffen so gleichzeitig Platz für den Hintermann. Ihr individueller Drang nach vorn beschleunigt das gesamte System. Anders gesagt: Das Fahrrad ist die FDP unter den Verkehrsmitteln. Nur dass die FDP das nicht weiß – die sitzt im BMW.
Kampfautofahrer
Theoretisch würde ein reines Rechts-Vor-Links auch mit Autos funktionieren. Praktisch muss man nur beobachten, wie sich Pkw-Fahrer an solchen Kreuzungen verhalten. Entweder brausen sie einfach los, quasi als Kampfautofahrer. Oder sie tasten sich vor, überlegen, wo noch mal rechts und wo links ist, rechnen nach, wer genau Vorfahrt haben könnte, sind hilflos, wenn plötzlich von allen Seiten Autos kommen, bleiben stehen, aus Angst um ihr lackiertes Gefährt.
Autos sind einfach zu groß für Stadtstraßen. Ohne Ampeln würden sich die Motorisierten unentwirrbar verkeilen. Radlern aber stiehlt jedes Rotlicht den Schwung. Warum also sollten sie die Ampeln beachten? Zumal das selbst Gutwilligen fast unmöglich gemacht wird. In der Straßenverkehrsordnung heißt es: „Wer ein Rad fährt, hat die Lichtzeichen für den Fahrverkehr zu beachten. Davon abweichend sind auf Radverkehrsführungen die besonderen Lichtzeichen für den Radverkehr zu beachten.
An Lichtzeichenanlagen mit Radverkehrsführungen ohne besondere Lichtzeichen für Rad Fahrende müssen Rad Fahrende bis zum 31. Dezember 2016 weiterhin die Lichtzeichen für zu Fuß Gehende beachten, soweit eine Radfahrerfurt an eine Fußgängerfurt grenzt.“ Erkenntnis 1: Radfahrer sind ein queeres Zwischending, für das die Autogesellschaft keinen klaren Begriff hat. Erkenntnis 2: Wer als Radler gesetzestreu Ampeln passieren will, muss erst seinen Anwalt konsultieren. Und wer das etwas übertrieben findet, fährt eben einfach los.
Denn noch etwas spricht eindringlich für das bewusste Queren bei Rot: die Unfallstatistik der Polizei. 7.342 Unfälle mit Radfahrerbeteiligung gab es 2012 in Berlin. Jeden fünften davon verursachten Kraftfahrer durch Fehler beim Abbiegen. Es ist mit Abstand der häufigste Unfallgrund. Und der gefährlichste: Fünf der 15 im letzten Jahr tödlich verunglückten Radler wurden von abbiegenden Autos überfahren. Laut ADFC waren die Opfer meist ältere, besonnenere Radler. Also solche, die auf Grün warten und vertrauen – und dann in die Falle gehen. Weil ein abbiegender Lkw-Fahrer, der ebenfalls Grün hat, sie einfach übersieht und überrollt.
Wer bei Rot fährt, fährt vorsichtig. Rechnet mit feindlichem Verkehr. Sieht sich um. Und kann sicher sein, dass kein Laster von hinten kommt. Klingt zynisch? Ja. Aber was sind die fünf häufigsten Gründe für von Radlern verursachte Unfälle? 1. Benutzen der falschen Fahrbahn. 2. Fehler beim Einfahren in den Verkehr. 3. Nicht angepasste Geschwindigkeit. 4. Alkoholeinfluss. 5. Falsches Verhalten gegenüber Fußgängern. Die Kategorie „Nichtbeachten der Verkehrsregelung“, unter die Fahren bei Rot fallen würde, taucht hier gar nicht auf.
Aber der gezielte Regelverstoß kann nicht nur Leben retten. Er ändert langfristig das System – weil die Politik irgendwann einsehen muss, dass ihr verstaubtes Regularium nichts mehr mit der Realität auf der Straße zu tun hat.
Dass es ein Problem gibt, hat der Bundesverkehrsminister schon erkannt – und zum 1. April erstmal die Bußgelder für Radfahrer erhöht. Nötig sei ein Dreiklang aus Kontrollen, Sanktionen und Verkehrserziehung, polterte Ramsauer. Dazu passt, dass die Berliner Polizei gerade eine Fahrradstaffel gegründet hat, um Rüpelradler zu jagen.
Mindestens zweispurig
Wenn ein Regime in Bedrängnis kommt, reagiert es mit Repression. Doch Systeme, die Proteste nicht integrieren können, werden über kurz oder lang von Revolutionen hinweggefegt, so der Essayist und Professor für Risikoanalyse Nassim Nicolas Taleb in seinem neuem Buch „Antifragilität“. Stabil bleibt nur, wer sich unter Stress anpasst. Kampfradler kennen das von ihren täglichen Fahrten.
Auch der autonormative Staat gibt schon hier und da nach, damit er nicht zerbricht. Vor ein paar Jahren wurde die Regel gekippt, dass Einbahnstraßenschilder grundsätzlich auch von Radlern beachtet werden müssen. Es hatte sich eh niemand mehr daran gehalten. Und in Frankreich wurde vergangenes Jahr der Grüne Pfeil eingeführt, der es ausschließlich Radfahrern erlaubt, bei Rot rechts abzubiegen.
Um Kampfradler-Bedürfnissen gerecht zu werden, müsste das System aber radikal umgebaut werden. Zweispurige Radwege, die das Überholen von Sonntagsradlern erlauben, wären das mindeste. Besser: statt Radspuren auf Straßen, Autospuren auf Fahrradstraßen! Sprich, die komplette Umkehr der Prioritäten.
Klingt utopisch – aber nur in deutschen Ohren. In Dänemark etwa ist das Realität. In Kopenhagen gibt es nicht nur Hauptstraßen, deren Radwege breiter sind als die Autospuren. Dort sieht man vor den Ampeln nicht nur Geländer, an die wartende Radler sich lehnen können. Dort bleibt selbst ein Kampfradler geduldig bei Rot stehen. Weil er vom System ernst genommen wird.
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