Kampf um bessere Arbeit: Pflegekräfte auf den Barrikaden
An der Medizinischen Hochschule Hannover fordert die Pflege einen Tarifvertrag, der Entlastungen vorsieht. Ausgerechnet der SPD-Minister ist dagegen.
So etwas, sagt Burkhard Sohn, habe er noch nicht erlebt. Seit elf Jahren ist der Krankenpfleger an der MHH, war schon an Tarifauseinandersetzungen beteiligt. Doch dieses Mal geht es nicht darum, wer wie eingruppiert wird oder ein bisschen mehr Geld kriegt. Dieses Mal geht es um Verbesserungen der Arbeitsbedingungen. Der Forderungskatalog, den Ver.di dem Ministerium übergeben hat, ist in einem aufwendigen, basisdemokratischen Beteiligungsprozess entstanden. 133 Bereiche haben formuliert, was sie benötigen, um gute Arbeit zu leisten.
Allein das, das machen seine Schilderungen deutlich, sorgt für eine ganz andere Haltung und Stimmung als bei den dutzenden Protesten zuvor: Raus aus der Opferrolle, dem Frust und dem ständig drohenden Burn-out, hin zu einer aktiven Gestaltung, zu klaren, konkreten Forderungen.
Und das betrifft nicht nur die Pflegekräfte. Mit im Boot sind auch die Mitarbeiter aus allen anderen Bereichen, aus Transport und Versorgung, Ambulanz, Labor und Radiologie bis hin zu Hebammen, Therapeuten, Lehrkräften und Azubis.
Es betrifft jeden Bürger, jeden Patienten
Sie versuchen, die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Veranstaltungen mit mehreren Hundert Teilnehmern im Biergarten oder im Arminia-Stadion machen deutlich: Das hier betrifft nicht nur die Beschäftigten, das betrifft jeden Bürger, jeden Patienten. „Wir haben ja sonst immer das Gefühl, wenn wir streiken, lassen wir unsere Patienten im Stich“, sagt Sohn, „aber hier war zu spüren, wie viele von denen eigentlich hinter uns stehen.“
Allerdings werden auch die MHH und die Landesregierung nicht müde, zu betonen, wie sehr sie den Wunsch der Pflegekräfte nach Entlastung verstehen und für absolut berechtigt hält. Strittig ist vor allem die Frage, wie das gehen soll.
Ver.di beruft sich auf das Vorbild diverser anderer Unikliniken, die bereits einen Entlastungs-Tarifvertrag abgeschlossen haben. Den Anfang machte 2021 die Charité in Berlin, 2022 erkämpften sich die Unikliniken in Nordrhein-Westfalen mit einem elfwöchigen Streik und harten juristischen Auseinandersetzungen ihren TV-E.
Der besondere Charme an diesen Vereinbarungen: Sie schreiben für jede Station, zum Teil schichtgenau, fest, welche personellen Mindestvoraussetzungen gegeben sein müssen. Sind sie das nicht, sammeln die Mitarbeiter, die das ausgleichen müssen, Belastungspunkte. Die werden dann in Form von Freizeit oder Geld ausgeglichen.
Zufriedeneres Personal, weniger Kündigungen
Das, so deuten es die ersten Auswertungen an, bedeutet nicht in jedem Fall, dass sich die Überlastungssituation sofort in Luft auflöst. Aber: Das Personal ist zufriedener, es gehen weniger Pflegekräfte von Bord, es scheint leichter, neues Personal zu gewinnen.
Müsste also nicht auch die MHH ein großes Interesse an einer solchen Vereinbarung haben? „Natürlich haben wir ein Interesse daran, die Mitarbeiter zu entlasten“, sagt Sprecherin Inka Burow. Allerdings könne die MHH als landeseigener Betrieb eben keinen eigenen Tarifvertrag abschließen. Man habe deshalb – schon vor dem aktuellen Konflikt – das Gespräch mit dem Personalrat über eine entsprechende Dienstvereinbarung gesucht. Nur: Zustande gekommen ist eine solche betriebliche Vereinbarung eben lange nicht.
Und jetzt mischt Ver.di mit. Eine Dienstvereinbarung, argumentieren die Gewerkschafter, ist viel unverbindlicher und leichter zu brechen als ein Tarifvertrag. Aber eine Gewerkschaft kann eben auch nur Tarifverhandlungen führen – für eine Dienstvereinbarung wäre der Personalrat allein zuständig.
Auf politischer Ebene ist – weil es sich um eine Uniklinik handelt – der Wissenschaftsminister Falko Mohrs (SPD) zuständig. Als Sozialdemokrat stellt er sich gegen einen Tarifvertrag Entlastung, den etwa die NRW-SPD vehement befürwortet hatte. Aber da sind die Genossen auch in der Opposition.
Ein TV-E sei hier nicht möglich, weil man dazu aus der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) ausscheiden müsste, lautet seine Verteidigungslinie. Und die TdL stünde in gar keinem Fall zur Disposition.
Kreativität gefragt. Und politischer Wille
Denkbar wäre möglicherweise, die MHH in eine andere Rechtsform zu überführen wie in NRW geschehen. Als Körperschaft des öffentlichen Rechtes oder als Stiftung könnte sie eigene Tarifverträge abschließen. „Aber bisher wollte Ver.di ja nicht, dass die MHH eine Stiftung wird“, sagt MHH-Sprecherin Burow. Davon abgesehen wäre dies eben auch ein längerer und vermutlich ziemlich teurer Prozess.
Ver.di-Vertreter David Matrai räumt ein: Eine Änderung der Rechtsform habe man bisher nicht gefordert. Das sei auf Seiten der Angestellten eben auch mit der Befürchtung verbunden, damit langfristig schlechter gestellt zu werden. Aber möglicherweise sind da ja auch noch gar nicht alle Möglichkeiten ausgelotet, wie es gelingen könnte, im Rahmen der TdL zu einer Lösung zu kommen. Da sei nun eben Kreativität gefragt. „Am Ende ist das auch eine Frage des politischen Willens.“
Die Wut der Pflegekräfte wird sich jedenfalls nicht so leicht wieder einfangen lassen. Am heutigen Mittwoch stehen sie erneut vor dem Landtag und suchen das Gespräch mit der Politik, Ministerpräsident Stephan Weil hat sein Kommen schon angekündigt. Wenn es kein Entgegenkommen gibt, folgt wohl ein neuer Aufruf zum Warnstreik. Den letzten hatte das Arbeitsgericht Hannover kurzfristig kassiert. „Aus eher formalen Gründen“, betont Ver.di-Vertreter Matrai. Beim nächsten Mal wird man schlauer sein. Und dann müsse die Landesregierung schauen, ob sie diese Art von juristischer Auseinandersetzung für eine kluge politische Antwort auf den Frust der Beschäftigten hält.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Soziologe über Stadt-Land-Gegensatz
„Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt“
Experten kritisieren Christian Lindner
„Dieser Vorschlag ist ein ungedeckter Scheck“
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Kränkelnde Wirtschaft
Gegen die Stagnation gibt es schlechte und gute Therapien
Zeitplan der US-Wahlen
Wer gewinnt denn nun? Und wann weiß man das?