Kampf gegen Gentrifizierung in Berlin: Frau Windschilds letzter Wille
Das Evangelische Johannesstift will ein Mietshaus verkaufen, das ihm vererbt wurde. Dagegen wehrt sich nun auch der Patensohn der Stifterin.
Der Konflikt Kurz vor Weihnachten kündigte das Evangelische Johannesstift den Mieter:innen der Anzengruberstraße 24 an, das Haus verkaufen zu wollen. Die Identität des Käufers ist den Mieter:innen nicht bekannt, die Stiftung spricht von einem „privaten Bestandshalter aus Deutschland“. Die Bewohner:innen der „Anzi24“ fordern den Bezirk auf, sein Vorkaufsrecht auszuüben.
Die Kundgebung findet am Samstag, 6. Februar 2021, von 11 bis 13 Uhr vor dem Haus in der Anzengruberstraße 24 statt. Erwartet werden auch andere Mieter:innengruppen wie etwa die „Donau5“, die „H48“ oder die „LeineOderBleibt“. Auch der Neuköllner Baustadtrat Jochen Biedermann (Grüne) und Vertreter:innen der Initiative Volksbegehren Deutsche Wohnen & Co. enteignen werden erwartet. (tk)
Nun ist das Haus, in dem Rahn selbst wohnt, bedroht. Die „Anzi24“, wie die Mieter:innen es nennen, soll verkauft werden. Das gefährde die Hausgemeinschaft, sagt Rahn. Nur die vergleichsweise niedrigen Mieten würden es vielen Bewohner:innen ermöglichen, weiter in dem Kiez zu leben. Das Alter der Mieter:innen reicht von 0 bis 78 Jahren, viele leben schon sehr lange im Haus.
Dass nun der Verkauf geplant ist, ist keine Selbstverständlichkeit. Denn der Besitzer der Anzengruberstraße 24 ist kein profitorientierter Miethai, sondern das Evangelische Johannesstift, eine christliche Einrichtung mit Sitz in Spandau, 1858 gegründet, um Arme und Kranke zu unterstützen – eine sozial gerechte Gesellschaft ist ihr Leitbild.
Der Gründerzeitbau in der Anzengruberstraße gehört dem Stift seit 1995, als dessen langjährige Besitzerin Margarete Windschild verstarb und der kirchlichen Einrichtung das Wohnhaus vermachte. Die taz berichtete bereits Mitte Januar über den drohenden Verkauf des Hauses. In Reaktion darauf meldete sich Harald Post bei der taz, Windschilds Patensohn.
Der Verkauf sei ein „Unding“, sagt Patensohn Post
Und Post, heute 80 Jahre alt und CDU-Lokalpolitiker in Nordrhein-Westfalen, hat einiges zu erzählen. Er sieht in dem geplanten Verkauf einen Vertragsbruch seitens des Johannesstifts – wenn schon keinen juristischen, so doch einen moralischen.
Denn der Verkauf stehe im eklatanten Widerspruch zum Willen der Verstorbenen, so Posts Meinung. Gerade angesichts der Größe des Vermächtnisses – der Gebäudekomplex in bester Lage umfasst zwei Hinterhöfe und Wohnraum für rund 50 Menschen – sei es ein „Unding“, wenn die Stiftung das Gebäude nun „einfach verhökert“.
Lilian Rimkus, Pressesprecherin des Johannesstifts, sieht das anders. Sie hält alle Auflagen des Testaments für erfüllt. Die Verstorbene habe dem Stiftungszweck dienen wollen. Da der Verkaufserlös des Hauses in ein soziales Projekt fließe, sei diesem Wunsch genüge getan.
Dem widerspricht Harald Post. Es sei stets das Ziel Margarete Windschilds gewesen, das Haus für seine Bewohner:innen zu erhalten. Nur hierfür sei es in die Hände des Johannesstifts gegeben worden, es hätte „nie als Spekulationsobjekt verwendet“ werden dürfen.
Das Johannesstift verweist auf eine Sozialcharta, die die Mieter:innen vor Eigenbedarfskündigungen oder missbräuchlichen Modernisierungsmaßnahmen schütze. Für die Aktivist:innen der Anzi24 ist diese Charta jedoch „das Papier kaum wert, auf dem sie steht“. Der versprochene Schutz reiche nur marginal über den ohnehin gesetzlich gesicherten Milieuschutz hinaus. Das Johannesstift widerspricht auch hier: Der Schutz werde „deutlich“ ausgeweitet, sagt Sprecherin Rimkus.
Für Harald Post geht es aber um mehr als um juristische Feinheiten. Am Telefon erklärt er ausführlich, warum er das Vertrauen gebrochen sieht, das seine Patentante einst in die Stiftung legte. Er erklärt dies mit lauter Stimme, die noch lauter wird, wenn ihm etwas wichtig erscheint. Und wenn er die Intention seiner Patentante beteuert, dann ruft er das, was er sagt, regelrecht hinaus.
Wer Post zuhört, dem wird schnell klar, dass er Margarete Windschild ebenso gut kannte, wie er sie bis heute bewundert. „Bis zuletzt hatten wir ein sehr enges Verhältnis“, sagt er. Lange Zeit lebten beide in Berlin.
Ein turbulentes Leben
Um zu verstehen, warum Herr Post das Vermächtnis seiner Tante nicht beachtet sieht, muss man sich mit deren Leben und Wirken beschäftigen. Davon kann Harald Post erzählen wie kein Zweiter: Quer durch die Höhen und Tiefen der deutschen Geschichte erinnert er sich bis ins kleinste Detail. Bei Vielem war er unmittelbar dabei.
Margarete Windschild sei einst eine Größe der Berliner Konfektionsbranche gewesen, erzählt Post. Schon in den Goldenen Zwanzigern des vergangenen Jahrhunderts habe sie ihren Durchbruch in Design und Vertrieb von Damenkleidern geschafft. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Emil, den sie mit nur 18 Jahren geheiratet habe, habe sie die Firma Windschild & Windschild gegründet.
So sei die 1895 Geborene zu jenem „gutem Geld“ gekommen, das ihr schon zu Weimarer Zeiten ermöglichte, das Haus in der Anzengruberstraße 24 zu kaufen. Sie sei eine Kämpferin gewesen, erzählt Post.
Die Nazizeit habe das Ehepaar „unpolitisch ausgesessen“, doch in den Wirren der Nachkriegszeit sei Emil Windschild von sowjetischen Truppen verschleppt worden. Seine zahlreichen Passstempel aus der Vorkriegszeit hätten die Soldaten zu der Vermutung veranlasst, es müsse sich bei ihm um einen Spion handeln. Aus Sibirien sei er nie zurückgekommen.
Obwohl Bomben die Fabrikräume am Hausvogteiplatz zerstört und auch das Haus in der Anzengruberstraße beschädigt hatten, habe sich seine Tante sofort wieder in die Arbeit gestürzt. Aus ihrer Wohnung in der Kreuzberger Fontanepromenade heraus habe sie begonnen, alte Militäruniformen in dringend benötigte Zivilkleidung umzuändern. Sie gründete ihre Firma neu; wieder unter dem Namen Windschild & Windschild, auch wenn nur noch sie da war.
Geschäftsfrau mit Herz
Bis zum Verkauf des Betriebs 1962 blieb der Name eine Größe im bundesrepublikanischen Bekleidungsgeschäft. Fortan habe sie sich nur noch dem Haus in der Anzengruberstraße gewidmet, das ihr all die Jahre erhalten geblieben war. Es sei ihr darum gegangen, „Menschen Wohnraum zu geben, die für sie gearbeitet haben oder in irgendwelchen Schwierigkeiten steckten“, sagt Post. „Ich kann Ihnen versichern: Sie kannte jeden ihrer Mieter persönlich.“
Eine Selbstverständlichkeit sei es für sie gewesen, sich um Reparaturen und andere Belange der Bewohnenden zu kümmern. Das bestätigen auch heutige Mieter:innen der Anzengruberstraße 24, die Frau Windschild noch persönlich kannten.
Etwa Hüseyin Topal, der auf Windschilds Wunsch hin gemeinsam mit seiner Frau den Hauswartsposten übernahm. Zu Kaffee und Kuchen sei sie vorbeigekommen, immer habe sie sich um alles gekümmert, sagt Topal, der seit 1991 im Haus wohnt. Er ärgert sich, dass Frau Windschilds Versprechen, das Haus nach ihrem Ableben in „gute Hände“ zu bringen, nun offenbar gescheitert sei.
Das ärgert auch Harald Post – und zwar gewaltig. Die Idee mit dem Johannesstift sei nur entstanden, weil seine Patentante Familienstreitigkeiten vermeiden wollte. Sie habe befürchtet, dass solche zum Verkauf des Hauses und damit zum Ende der von ihr gewünschten sozialen Bindung führen könnten.
Die christlichen Werte des Johannesstifts habe Margarete Windschild als Garantie dafür angesehen, dass ihre Wünsche berücksichtigt würden. In dieser Hinsicht habe sie der Stiftung mehr vertraut als ihrer eigenen Familie, die sie anderweitig begünstigte. Und hier wird Harald Post richtig laut. „Eine Schenkung dieser Größenordnung nach 25 Jahren zu verkaufen, wenn man weiß, dass die Stifterin klare Vorstellung hatte, das ist das ein Unding!“, ruft er aus.
Vorkaufsrecht statt Haifischmentalität
Es geht ihm dabei nicht nur um das materielle Erbe seiner Patentante, sondern auch um den Geist ihres Wirkens. Windschild sei „nie Kapitalistin, sondern stets Geschäftsfrau“ gewesen, sagt er.Natürlich sei sie Vermieterin gewesen, natürlich hätten Geschäftsbeziehungen bestanden. Aber nie wäre es ihr in den Kopf gekommen, ihre Mieter:innen für ein bisschen Profit abzustoßen, sagt Post.
Es sei diese „Haifischmentalität“, die ihn so sauer mache – und das sage ein CDU-Politiker, der von sich selbst meint, „prinzipiell doch auf Seiten des Kapitals“ zu stehen. Dennoch beobachte er eine Veränderung in der Funktionsweise des Kapitalismus, die er nicht mittragen wolle, sagt Post – und für die auch seine Patentante ganz sicher nicht gestanden habe.
Und so stehen ein CDU-Politiker aus Nordrhein-Westfalen und die Anzi24-Mieteraktivist:innen plötzlich auf derselben Seite. Beide beklagen einen tiefgehenden Vertrauensverlust und wünschen sich, dass es keiner ausformulierten Vertragstexte bedürfe, damit menschliche Schicksale nicht Opfer reiner Profitinteressen werden – eine Charakterisierung, dem das Johannesstift sicher widersprechen würde.
Die Aktivist:innen und Post wissen aber auch, dass Nostalgie zwecklos ist. Im Zweifel sei die Politik gefordert, sagt Lokalpolitiker Post: „Die Stadt muss dafür sorgen, dass günstiger Mietraum erhalten bleibt.“ Der Bezirk besitze das Vorkaufsrecht und müsse dieses auch nutzen.
Auch die Aktivist:innen der Anzi24 fordern einen Vorkauf ihres Hauses durch den Bezirk. Neuköllns Baustadtrat Jochen Biedermann (Grüne) hat bereits Unterstützung angekündigt. Er komme sogar zu der Kundgebung, die die Mieter:innen am Samstag vor ihrem Haus veranstalten, kündigt Rahn von der Anzi24 an.
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