: „Jut für die Jesundheit“
Die Bahnhofsmission am Bahnhof Zoo ist Anlaufpunkt für die, deren Leben aus der Bahn geraten ist. Aber auch ganz normale Reisende verirren sich hierher und finden freundliche Aufnahme
von TINA BUCEK
Karl ist kalt. Seine Kuppen, krebsrot ragen sie aus den ausgerissenen Wollhandschuhen ohne Spitzen, umschließen eine Plastikflasche. „Punica“ steht drauf, hinein fließt heißer Hagebuttentee, und in die erstarrten Gelenke nach und nach ein Kribbeln.
„Danke, det vertreibt die bösen Jeister“, grinst der 43-Jährige schief. Auch nach Jahren versucht er dabei, seine abgebrochenen Schneidezähne zu verbergen – und auch, wo er diese Nacht geschlafen hat. In den beiden Plastikkörben sucht Karl zwischen Croissants und Schrippen nach Vollkornbrötchen. „Is jut für die Jesundheit!“, nickt er dabei einem Asiaten aufmunternd zu, der schon gestern abend ohne Fahrkarte in die Bahnhofsmission gestolpert ist. Der greift trotzdem zum Milchhörnchen.
„Hier gibt’s für jeden was“, kommentiert Janina Jonietz das ungleiche Paar. Die stellvertretende Leiterin der Mission gehört zu denen, die orientierungslose Fahrgäste aufsammeln, Verletzten auf dem Bahnsteig helfen – und Karl jeden Morgen sein Frühstück über die beiden Campingtische reichen. Doch wenn es nach Bahnchef Hartmut Mehdorn geht, dann ist das bald vorbei. Im Oktober letzten Jahres formulierte der nämlich dezidiert: Essen solle am Bahnhof Zoo in Zukunft nicht mehr an Obdachlose ausgegeben werden – um nicht unnötig viele von ihnen in den Bahnhofsbereich zu locken. Die stranden in den drei Räumen am Ostausgang tatsächlich rund um die Uhr, ebenso wie Reisende mit Schwierigkeiten.
Janina Jonietz hält den jüngsten Vorstoß von Bahnchef Mehdorn für verfehlt. „Der glaubt doch nicht im Ernst, dass seine Kunden mit einem blitzsauberen Bahnhof zufrieden wären. Das erleben wir vor Ort ganz anders. Unterschiedliche Leute treffen aufeinander und haben sich was zu erzählen, helfen sich. Denn ein Bahnhof ist eben immer ein besonderer Ort. Dazu gehören Menschen mit Brüchen.“
Mehdorn will die Essensausgabe für Obdachlose in den S-Bahn-Bogen Tiergarten verlegen, doch das macht für Janina Jonietz wenig Sinn. Schließlich gehe es am Zoo nicht in erster Linie darum, Obdachlose zu versorgen. „Das Netz der Anlaufstellen für Obdachlose wie Wärmestuben und Suppenküchen, wo es kostenlose Übernachtungsmöglichkeiten gibt, ist in unserer Stadt vorbildlich.“ Ihren Charakter erhält die Bahnhofsmission gerade durch ihren Standort. „Bahnhof Zoo ist eben was Besonderes; hier passiert, was zwei Straßen weiter nicht passiert.“
Dafür ist Karl das beste Beispiel. Für ihn gibt es auf die Frage, warum er zum Essen in die Bahnhofsmission am Zoo kommt und nicht in die Wärmestube zwei Straßen weiter geht, nur eine Antwort: „Na hier komm ’se alle hin!“ Denn an dem legendenbeladenen Knotenpunkt treffen sich nicht nur U-Bahn, S-Bahn und Fernzüge, sondern auch Reisende aus ganz Europa, Geschäftsleute, Politiker, Pendler und Bummler. Gerade deshalb ist Janina Jonietz davon überzeugt: „Dass die Obdachlosen bei uns selbstverständlich mit ganz unterschiedlichen Leuten zusammenkommen, nicht als Gruppe isoliert sind, ist ein Grund, warum sie hier essen!“
Karl kommt mehrmals am Tag an die provisorische Theke mit der lila Plastiktischdecke, um sich Tee, Brot und ab und zu auch mal frisches Obst und Gemüse zu holen. Praktisch sei das hier am Zoo, gleich beim Ku’damm um die Ecke, da brauche man keine teure Fahrkarte zu kaufen und mit den kaputten Beinen nicht lange zu laufen. „Die zentrale Lage ist sicher auch für viele Wohnungslose ein entscheidendes Argument“, betont Janina Jonietz. „Wir sind für viele, die auf der Straße leben, einfach am nächsten dran.“
Hinter Karl hat sich eine Schlange gebildet. Es ist halb zehn, auf den Stühlen im Vorraum stapeln sich Beutel und Decken, ein Hund streicht umher.
Karl hat fertig gefrühstückt, macht sich zum Gehen bereit. Er zieht seinen Anorak zu, vorher wickelt er noch zwei Äpfel in eine Serviette. „Tschüssi“, winkt er zum Asiaten rüber. „Auf Wiedelsehn“, lächelt der zurück. „Na da kannste Jift drauf nehmen. Ick war heute bestimmt nich das letzte Ma’ da!“
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