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Justiz in der TürkeiAngriff auf das Verfassungsgericht

Das Oberste Berufungsgericht strebt Ermittlungen gegen die Verfassungshüter an. Das hat die Klage eines inhaftierten linken Abgeordneten ausgelöst.

Unterstützer-Kundgebung für Can Atalay im Juni in Izmir Foto: Murat Kocabas/imago

Berlin taz | Die Türkei steuert auf eine Verfassungskrise zu. Das oberste Berufungsgericht für Strafsachen, Yargetay, will ein Urteil des Verfassungsgerichts nicht nur nicht anerkennen, sondern hat den Generalstaatsanwalt beauftragt, Ermittlungen gegen die Mitglieder des Verfassungsgerichts aufzunehmen, weil diese ihre Befugnisse überschritten hätten. Damit, so Ex-Premier Ahmet Davutoğlu, stehe die Existenz des Verfassungsgerichts auf dem Spiel. Er sprach von einem „Putsch gegen den Rechtsstaat und die Demokratie“. Die Opposition will gegen diesen „Justizputsch“, wie der neue Chef der CHP, Özgür Özel sagte, vorgehen.

Anlass für den Versuch, das Verfassungsgericht auszuhebeln, ist eine Entscheidung der Verfassungsrichter in der Sache des linken Abgeordneten Can Atalay. Atalay wurde bei der Parlamentswahl am 14. Mai für die türkische Arbeiterpartei TIP als Abgeordneter der Provinz Hatay ins Parlament gewählt.

Allerdings sitzt Can Atalay im Gefängnis und konnte deshalb sein Amt nicht antreten. Er wurde im Rahmen des Gezi-Prozesses wegen eines angeblich versuchten Staatsumsturzes mit anderen prominenten Oppositionellen zu 18 Jahren Haft verurteilt. Zum Zeitpunkt der Wahl war dieses Urteil noch nicht rechtskräftig.

Atalay strengte vor dem Verfassungsgericht eine Individualklage an und bekam recht. Am 25. Oktober beschied das Verfassungsgericht, Can Atalays Rechte als gewählter Abgeordneter seien unrechtmäßig beschnitten worden. Er müsse freigelassen werden. Die Entscheidung ging zurück an die Strafkammer in Istanbul, die Atalay verurteilt hatte und dessen Freilassung sofort hätte verfügen müssen. Doch die Strafrichter weigerten sich, der Anordnung des Verfassungsgerichts nachzukommen und reichten das Problem an das oberste Berufungsgericht für Strafsachen, Yargetay weiter. Die Yargetay-Richter befanden, das Verfassungsgericht habe die Verfassung gebrochen und die Richter müssten angeklagt werden.

Kampfansage an das Gericht

Diese Entscheidung ist eine Kampfansage an das Verfassungsgericht und in der türkischen Rechtsgeschichte beispiellos. Die Entscheidung der Yargetay-Richter am Mittwochabend fiel am selben Tag, an dem das türkische Außenministerium einen Bericht der EU-Kommission, in dem Demokratiedefizite beklagt werden, empört zurückwies.

Tatsächlich hat das Vorgehen der Yargetay-Richter einen politischen Hintergrund. Sowohl die Regierungspartei AKP als auch ihr Koalitionspartner MHP schießen sich seit Längerem auf das Verfassungsgericht ein, weil die Verfassungsrichter eine der letzten Instanzen sind, die einem Umbau des Staates im Sinne von Präsident Erdoğan noch im Weg stehen.

Erdoğan hat wiederholt angekündigt, die Verfassung grundlegend ändern und auch die „Ewigkeitsartikel“ wie die Festlegung, die Türkei sei ein laizistischer Staat, abschaffen zu wollen. Dem stünde das Verfassungsgericht im Weg. MHP-Chef Bahceli hat mehrmals gefordert, das Verfassungsgericht zunächst ganz abzuschaffen.

Derweil sitzt Atalay in Haft und wird seinen Sitz im Parlament, sobald nicht einnehmen können. Zudem haben die Yargetay-Richter gefordert, ihm den Abgeordnetenstatus auch formal abzuerkennen.

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1 Kommentar

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  • Mir fehlt langsam jeder Optimismus für die Türkei. Und es sitzt ja auch Selahattin Demirtas im Gefängnis. Er ist ein Oppositionsführer. Wenn jetzt die letzte republikanisch Instanz gekippt wird, ist die Türkei in einer art verschrobenen Psyeudo-Demokratie mit hartem diktatorischen Kern angelangt. Alle Zeichen deuten schon in diese Richtung. Dabei hat es seit 1980 in den kurdischen Gebieten schon mehr oder weniger dauerhafte dikatatorische Militärregierungen gegeben. Dort galten auch Sondergesetze und Sonderregelungen, die zu endlosen Menschenrechts- und Kriegsverbrechen geführt haben. Eine freie Presse gibt es seit mehrerern Jahren auch nicht mehr.