Juristin über Referentenentwurf zu 219a: „Orwell'sche Abstrusitäten“
Der Gesetzentwurf der Regierung zur Reform des Paragrafen 219a löse die bestehenden Probleme nicht, sagt Maria Wersig vom Juristinnenbund.
taz: Frau Wersig, das Bundesjustizministerium hat einen Vorschlag zur Reform des Paragrafen 219a Strafgesetzbuch vorgelegt. Was halten Sie davon?
Maria Wersig: Wir vom Juristinnenbund sind damit nicht zufrieden. Die verfassungsrechtlichen Probleme, die aus der Kriminalisierung der Ärztinnen und Ärzte entstehen, werden damit nicht gelöst.
Wieso nicht? Ärzt*innen sollen doch künftig darüber informieren dürfen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen.
Sie dürfen künftig straflos darüber informieren, dass sie Abbrüche durchführen. Aber schon für die Information, welche Methoden angewandt werden, muss auf Listen neutraler Stellen verlinkt werden. Erst dort steht dann, ob jemand einen medikamentösen Abbruch anbietet oder einen operativen.
Wie sieht es denn aus mit der Webseite der angeklagten Kasseler Ärztinnen Nora Szász und Natascha Nicklaus? Dort steht: „Schwangerschaftsabbruch, operativ oder medikamentös mit Mifegyne“.
Das wäre wohl weiterhin strafbar, wegen allem, was nach dem Komma kommt. Zwar ist Rechtsanwendung auch ein kreativer Umgang mit Sprache, der Wille des Gesetzgebers ist aber sehr deutlich. Man sollte sich auf diesen Kompromiss nicht in der Hoffnung einlassen, dass das neue Gesetz wohlwollend den Ärztinnen und Ärzten gegenüber ausgelegt wird.
Ist die Regelung denn so problematisch?
Das ist in mehrerer Hinsicht ein Problem. Zum einen ist es ein Widerspruch in sich: Ein und dieselbe Information ist auf der Webseite einer neutralen Stelle legal, auf der Webseite einer Ärztin aber eine Straftat. Dass die Information über eine legal durchgeführte Dienstleistung im Strafrecht reguliert wird, ist einmalig. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt: Wenn es rechtlich möglich ist, Abbrüche durchzuführen, dürfen Ärztinnen und Ärzte darüber auch informieren. Und auch in der Praxis wird diese Regelung Probleme nach sich ziehen.
40 Jahre alt, ist Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes. Sie ist Professorin an der FH Dortmund.
Zum Beispiel?
Ärztinnen und Ärzte müssen weiter sehr vorsichtig sein. Ein falsches Wort auf der Webseite, und sie stehen wieder mit einem Bein in der Strafbarkeit. Warum? Wir reden hier doch über sachliche Information. Das Ganze erinnert schon sehr an Orwell’sche Abstrusitäten.
Und was schlagen Sie in Ihrer Stellungnahme vor?
Wir plädieren weiterhin dafür, Paragraf 219a zu streichen. Wenn man den gesellschaftlichen Diskurs über Schwangerschaftsabbrüche regulieren will, dann geht das auch im Ordnungswidrigkeitenrecht. Dort könnte man etwa grob anstößige Werbung oder Werbung für rechtswidrige Abbrüche mit Geldbußen belegen. Wenn man aber über die Grenzen des öffentlichen Diskurses spricht, gibt es aus unserer Sicht noch ganz andere Probleme.
Und zwar?
Bei der Debatte geht es immer wieder auch um einen „gesellschaftlichen Klimaschutz“. Wer so argumentiert, darf auch zu etwas anderem nicht schweigen: Sogenannte Lebensschützer vergleichen öffentlich Abtreibungen mit dem Holocaust. Diese Relativierung und Instrumentalisierung nimmt zu, im Netz, auf Postkarten und so weiter. Das ist geeignet, den gesellschaftlichen Frieden zu stören, und wir schlagen vor, auch das als Ordnungswidrigkeit zu ahnden.
Gibt es dafür nicht schon Gesetze?
Es gibt den Paragrafen 130 Strafgesetzbuch, Volksverhetzung. Dort ist unter anderem die Holocaustleugnung geregelt. Aber diese Menschen leugnen den Holocaust ja nicht. Sie sagen: Er war rechtswidrig, aber straffrei, und genau so ist es heute mit den Abtreibungen. Oder sie sprechen vom „neuen Holocaust“.
Letzteres steht etwa auf der von Abtreibungsgegnern betriebenen Webseite „Babycaust“.
Ja. Auf solchen Seiten darf übrigens auch künftig stehen, wer Schwangerschaftsabbrüche durchführt, und auch mit welchen Methoden. Die Betreiber dieser Seite haben ja selber keinen Vermögensvorteil und erfüllen deswegen nach herrschender Meinung nicht den Straftatbestand.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind