Jurist über Freispruch von Olaf Latzel: „Das Urteil ist skandalös“
Der Bremer Pastor Olaf Latzel wetterte gegen Homosexuelle, wurde verurteilt – und freigesprochen. Jurist Tore Vetter über die Sicht der Betroffenen.
taz: Das Landgericht Bremen hat am Freitag entschieden: Was Pastor Olaf Latzel in einem Eheseminar über Homosexuelle gesagt hat, ist keine Volksverhetzung. Wie konnte es zu diesem Urteil kommen, Herr Vetter?
Tore Vetter: Die Äußerungen von Latzel selbst waren unbestritten. Es ging nur noch um die Frage, ob diese Äußerungen im Sinne der Volksverhetzung ein Aufstacheln zum Hass gegen Teile der Bevölkerung sind oder die Würde dieser Menschen angegriffen haben. In jedem Einzelfall muss ein Gericht dann die Grundrechte der Beteiligten abwägen, auch die von Latzel: die Meinungsfreiheit, bei religiösen Äußerungen auch die Religionsfreiheit. Die Urteilsbegründung liegt noch nicht schriftlich vor, aber das war wohl der Knackpunkt: dass die Abwägung zwischen der Religionsfreiheit und der Persönlichkeitsrechten sowie der Menschenwürde queerer Menschen zugunsten Latzels ausgefallen ist.
Anders als das Amtsgericht in erster Instanz entschieden hatte.
Genau. Die Gerichte schauen, ob eine Äußerung unter die Religionsfreiheit fallen könnte. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgend, wird anhand einer sogenannten Plausibilitätsprüfung geguckt, ob das Gesagte irgendwie plausibel unter den Glauben der äußernden Person fällt.
Deswegen auch die Gutachten, die für den Prozess beauftragt wurden?
Ja. Wobei es recht erstaunlich ist, dass das Gericht so umfangreiche theologische Gutachten eingeholt hat, weil man wahrscheinlich auch ohne hätte sehen können, das zumindest in Teilen des Christentums homosexuelle und queere Menschen abgelehnt werden. Insofern ist es erst mal auch relativ unproblematisch, dass Latzel sich auf seine Religionsfreiheit berufen kann. Das darf aber keinesfalls dazu führen, dass eine Äußerung deswegen keine Straftat sein kann. Die Religionsfreiheit ist keine Art Super-Grundrecht, das grundsätzlich zu einer Straffreiheit von Äußerungen führt. Bei der Frage, ob die Menschenwürde der Betroffenen angegriffen ist, muss immer die Perspektive dieser einbezogen werden. Es darf keine Art von Parallel-Wertung innerhalb der Religion vorgenommen werden.
Wann ist die Würde eines Menschen denn verletzt?
Ein Angriff auf die Menschenwürde kann nach der Rechtsprechung etwa dann vorliegen, wenn das Recht der betroffenen Gruppe auf ein gleichberechtigtes Leben innerhalb der Gesellschaft in Frage gestellt wird. Dann muss natürlich berücksichtigt werden: Was hat das für Folgen für die Betroffenen? Und nicht nur der ideologische Hintergrund des Äußernden.
30, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Europäische Rechtspolitik der Universität Bremen. Er ist Mitherausgeber des jährlich erscheinenden Reports „Recht gegen Rechts“.
Die Richterin am Amtsgericht hat genau darauf geschaut und gesagt: Latzel stiftet zu einem Hass gegen einen Teil der Bevölkerung an.
Im Landgericht scheint sich dagegen das Narrativ durchgesetzt zu haben – wie es in einer christlichen, fundamentalistischen Szene von der katholischen Kirche bis zu Evangelikalen verbreitet wird -, dass nicht die Menschen abgelehnt würden, sondern die Homosexualität. Das Amtsgericht ist dem nicht auf den Leim gegangen und hat gesagt: Homosexualität ohne Menschen ist schlichtweg nicht vorstellbar. Das hat das Landgericht offensichtlich anders gesehen – und damit die Sichtweise der Betroffenen meines Erachtens verkannt. Dabei muss diese im Rahmen so einer Bewertung ganz klar mit berücksichtigt werden.
Viele Gruppen sind empört und halten das Urteil für falsch. Sie also auch?
Ja. Das Skandalöse daran ist doch, dass es gravierende Folgen haben kann. Menschenverachtende Äußerungen und solche, die sich ganz konkret gegen homosexuelle, queere Menschen richten, könnten sich damit zukünftig immer unter dem Deckmantel der Religion verstecken. Oder hinter dem Argument: Es sind gar nicht die Menschen gemeint, sondern eben „nur“ ihre gesellschaftliche Gleichstellung. Übrigens ist das eine Entwicklung, die auch an anderer Stelle sichtbar geworden ist: Im März letzten Jahres hat das Landgericht Kassel in zweiter Instanz zugunsten eines Biologieprofessor geurteilt. Er hatte sich homophob geäußert und auf die Wissenschaftsfreiheit berufen. Das Gericht hat berücksichtigt, dass er als Biologieprofessor einen wissenschaftlichen Hintergrund hätte und quasi einen wissenschaftlichen Beitrag hätte leisten wollen.
Liegt das Rechtssystem in dieser Abwägung ein Stück weit zurück hinter der gesellschaftlichen Entwicklung zurück?
Es ist zumindest problematisch, wenn Gerichte zugunsten eines einseitig liberalen Grundrechtsverständnisses der Äußernden die Grundrechte der Betroffenen komplett verkennen.
Glauben Sie, dass die Staatsanwaltschaft im Fall Latzel Revision einlegen wird?
Ich hoffe, dass da noch was kommt und der Fall zum Oberlandesgericht geht. Damit es eben nicht Schule macht, sich bei solchen Äußerungen auf Religionsfreiheit berufen zu können. Aber die strafrechtliche Perspektive ist nicht die einzige. Aus meiner Sicht ist jetzt vor allem die Landeskirche in der Pflicht.
Das Disziplinarverfahren läuft noch. Welchen Spielraum hat die Kirche überhaupt?
Die Kirche schien auf den Ausgang des Verfahrens gewartet zu haben, auch wenn sie davon unabhängig ist. Es kommt nicht drauf an, ob Latzel sich strafbar gemacht hat, sondern ob er Amtspflichten verletzt hat – etwa wenn er gegen den kirchlichen Auftrag und die Ordnung der Kirche verstoßen oder ihr Ansehen verletzt hat. Dann kann er versetzt oder sogar aus dem Dienst entfernt werden. Die Kirche darf sich jetzt jedenfalls nicht hinter diesem Freispruch zurückziehen. Meiner Ansicht nach sollte sie den Handlungsspielraum nutzen, auch wenn eine Entfernung aus dem Dienst natürlich vor Gericht auch gekippt werden könnte. Sie sollte sich entscheiden, ob sie homophobe Prediger wie Latzel duldet oder sich an die Seite der Betroffenen, nicht zuletzt der queeren Menschen innerhalb ihrer Gemeinden, stellt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!