Jugendliche und Corona: Sprachlos im Stimmengewirr
Für die Studie JuCo 2 wurden junge Menschen zu ihren Erfahrungen in der Coronazeit befragt. Viele blicken sorgenvoll in die Zukunft.
Die zurückliegenden Monate nagen an den Nerven. Die Entwicklung des Infektionsgeschehens, die Varianten der Maßnahmen und Kontaktbeschränkungen, die Mutationen des Virus und vor allem die tägliche Benachrichtigung über die Infektionszahlen, die Angaben vom RKI über Menschen, die an oder mit Corona verstorben sind, führen in allen Altersgruppen zu Verunsicherung, psychischer Belastung und teilweise zu Abwehr. „Verantwortung“ ist ein zentraler Begriff der öffentlichen Diskussion, insbesondere wenn es darum geht, dass im individuellen Alltag die Regeln von jeder einzelnen Person eingehalten werden.
Damit werden auch Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in die Verantwortung für eine gelingende Strategie gegen die Ausbreitung des Virus genommen. Was jeweils erwartet wird, ist mindestens für jüngere Kinder, aber auch für Jugendliche und junge Erwachsene nicht immer zu durchschauen. Wofür Einzelne verantwortlich gemacht werden und wofür sie sich verantwortlich fühlen, wenn das Infektionsgeschehen öffentlich diskutiert wird, bleibt jenseits klar definierter Regeln – im Bus einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen – diffus.
Während einerseits ein Stimmengewirr über Verantwortung zu beobachten ist, sind andererseits wichtige Themen eher durch Sprachlosigkeit geprägt. Beides, Stimmengewirr und Sprachlosigkeit, betreffen derzeit auch Lebenswelt und Lebensgefühl junger Menschen sowie die gesellschaftliche Diskussion über Jugendliche und junge Erwachsene.
Pflegekräfte, das könnte im Zuge der Pandemie allen deutlich geworden sein, sind die menschliche Brücke zwischen isolierten Erkrankten und ihren Angehörigen. Dass auch junge Menschen in Kliniken arbeiten, wird hingegen selten thematisiert.
„Ich bin Pflegekraft im Krankenhaus, die neuen Einschränkungen und steigende Zahlen der Coronapatienten bei uns verursachen viel Unsicherheit.“ In mehr als 1.400 eindrücklichen Kommentaren haben Jugendliche und junge Erwachsene im Rahmen einer Studie ihre Stimmung, ihren Alltag, ihre soziale Lage und ihre Meinung kommuniziert. Die Pflegekraft ist eine von über 7.000 Personen zwischen 15 und 30 Jahren, die an der bundesweiten Jugendstudie JuCo 2, die im November 2020 durchgeführt wurde, teilgenommen haben (www.doi.org/10.18442/163). Die Mehrheit war unter 20 Jahre alt, 70 Prozent waren weiblich, 20 Prozent hatten einen Migrationshintergrund, 30 Prozent gaben an, in einer Großstadt zu leben, 30 Prozent auf dem Land und der Rest in kleineren oder mittleren Städten.
Verantwortung für Andere
Die zitierte junge Pflegekraft eines Krankenhauses steht hier stellvertretend für all diejenigen, die derzeit in jungem Alter Verantwortung für Andere tragen, aber als Angehörige dieser Altersphase nur wenig im Blick sind. Denn einerseits wird unter den Eindrücken der Pandemie der Mangel etwa bei der Digitalisierung der Bildung beziehungsweise fehlenden tragfähigen Konzepten wie unter einem Vergrößerungsglas besonders viel Raum gegeben und vielstimmig diskutiert.
Andererseits wirkt die öffentliche Diskussion monothematisch, denn andere Phänomene, Ereignisse oder soziale Gruppen stehen im Schatten der Aufmerksamkeit. Schülerinnen und Schüler kritisieren, dass sie derzeit auf diese eine Rolle reduziert werden und funktionieren sollen, aber, so ließe sich argumentieren, immerhin wird über Schule, Präsenz- oder Fernunterricht heftig gestritten. Nicht wenige Schulkollegien hätten sich diese Aufmerksamkeit vermutlich früher gewünscht.
Die Ökonomie der Aufmerksamkeit führt dazu, dass andere Orte, die den Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen prägen, unsichtbar sind und damit auch die Aufgaben, die jugendliche Akteure im Beruf, in der Ausbildung, im Ehrenamt etwa bei der telefonischen Beratung von Gleichaltrigen immer samstags von 14 bis 20 Uhr übernehmen (www.nummergegenkummer.de/kinder-und-jugendtelefon.html).
Sabine Andresen ist Pädagogin mit dem Schwerpunkt Kindheits- und Jugendforschung und lehrt als Professorin an der Universität Frankfurt/Main. Mit ihrem Forschungsbereich ist sie an der Studie JuCo 2 beteiligt.
Bei der Jugendbefragung im November kamen 40 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Schule, 23 Prozent waren im Studium, etwa 12 Prozent waren erwerbstätig, 7,5 Prozent in Ausbildung und etwas mehr als 10 Prozent waren in einem Freiwilligendienst tätig. Diese Verteilung gibt einen kleinen Überblick darüber, dass die Lebensumstände junger Menschen vielfältiger, aber in der öffentlichen Aufmerksamkeit nicht repräsentiert sind. Unbenommen ist die Situation für Schülerinnen und Schüler schwierig, doch erstens kann die Schule allein die Belastungen dieser Krise für Jugendliche nicht ausbalancieren und zweitens ist niemandem geholfen, wenn andere biografische Stationen zwischen 15 und 30 Jahren marginalisiert werden.
Einsamkeit und Sorge
Die Konzentration auf einige wenige Themen trägt zudem mit dazu bei, dass andere Aspekte zu beschwiegenen Erscheinungen der Pandemie werden. Die erste Auswertung der Befragung zeigt einen großen Anteil an jungen Menschen, die sich einsam fühlen (über 30 Prozent) und sorgenvoll in die Zukunft blicken (45 Prozent). Hinzu kommt die Sorge, ältere Angehörige könnten sich anstecken und erkranken.
So ist nicht nur die junge Pflegekraft davon betroffen, in dieser Pandemie eine große Verantwortung für besondere verletzliche Menschen zu tragen, auch im nahen Umfeld von Jugendlichen hat dies ein neue Dimension erhalten. Doch die damit einhergehenden Zweifel, der Wunsch, eine solche Verantwortung vielleicht auch mal zurückweisen zu können, und Verunsicherung haben allenfalls im Privaten einen Raum, zur Sprache gebracht zu werden.
In den Kommentaren der Studie wird dies thematisiert: „Vielen geht es psychisch nicht gut und manchmal weiß ich nach einer Nachricht oder einem Anruf nicht, ob sie die nächste Nacht überstehen werden. Dann sitze ich da und hoffe. Hoffe, dass ich nicht hätte eigentlich zu diesen Personen fahren müssen, dass ich mich richtig entscheide, indem ich zu Hause sitzen bleibe, niemanden ‚gefährde‘. Ich fühle mich überfordert und schutzlos und irgendwie ein bisschen, als könnte ich nichts richtig machen. Wir jungen Menschen versuchen, glaube ich, ganz verzweifelt alles richtig zu machen, verantwortungsvoll zu handeln.“
Wo wird darüber gesprochen, dass Jugendliche sich verantwortlich fühlen, wenn sie einen depressiven Freund wegen der Kontaktbeschränkungen nicht besuchen können und zugleich das Gefühl haben, ihn im Stich zu lassen? In der Studie schreiben Jugendliche auch über Großeltern in Pflegeeinrichtungen, die sie nicht besuchen können oder wollen: „Ich bin oft traurig und mich belastet es, dass ich meine Großeltern nicht mehr umarmen kann. Außerdem ist meine Oma seit Kurzem im Krankenhaus und ich kann sie nicht besuchen.“
Fehlende Ablenkung
Die um die Weihnachtszeit kurz aufgeflammte Diskussion über ein öffentliches Gedenken an die Verstorbenen, die mit Covid-19 infiziert waren, hat für einen Moment die Aussicht darauf eröffnet, sprachfähig zu werden und Verantwortungsgefühle zu teilen. Die Zeit scheint dafür aber noch nicht reif zu sein. So bekommen Jugendliche und junge Erwachsene eine gesellschaftliche Sprachlosigkeit über den Verlust von Nähe zwischen Generationen besonders zu spüren und sie haben außerhalb der Familie und der digitalen Kommunikation kaum Räume, in denen sie wenigstens zeitweise auf andere Gedanken kommen, abgelenkt werden oder aber das Gespräch über persönliche Verluste und diffuse Gefühle suchen können.
Jeden Tag werden wir über die aktuelle Zahl der an und mit Covid-19 Verstorbenen informiert. Auch Jugendliche gehören mit hoher Wahrscheinlichkeit zu den Hinterbliebenen. Ihr Opa sei an Corona gestorben, hat eine JuCo-2- Studienteilnehmerin mitgeteilt und das sei neben der persönlichen Zukunftsangst eine Bürde, die sie müde mache und lähme.
Und wer den Gedanken zulässt, dass sich viele der Verstorbenen nicht von ihren Angehörigen oder nahen Freundinnen und Freunden verabschieden konnten, dass sie ihre letzten Tage an Beatmungsmaschinen verbracht haben, wird auch die zitierten Studienteilnehmerinnen besser verstehen: Vieles macht derzeit traurig und viele fühlen sich belastet und nicht immer gibt es im nahen Umfeld gute Gelegenheiten, sich auch über den Tod, die damit verbundenen Ängste sowie über gemeinsame Erinnerungen auszutauschen. Hier lohnte sich der Austausch über Verantwortung und Sprachlosigkeit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus
James Bond
Schluss mit Empfindsamkeit und Selbstzweifeln!
Bodycams bei Polizei und Feuerwehr
Ungeliebte Spielzeuge
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach