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Jugendliche in BerlinJung und einsam

Studien zeigen: Insbesondere junge Menschen leiden unter Einsamkeit. Der Bezirk Reinickendorf will nun gegen jugendliche Vereinsamung angehen.

Kopfhörer können spontanes Plaudern und lockeren Austausch erschweren Foto: Karsten Thielker

Kurz vor der großen Abschlussrunde sind die Jugendlichen aufgeregt. Eine Bühne, ein Mikro und ein Publikum warten auf sie. Und es ist nicht nur der Auftritt, der ihre Nervosität steigert. Es ist auch das Thema. Denn die Jugendlichen, die sich am Dienstag im Foyer des Ernst-Reuter-Saals am Reinickendorfer Rathaus zusammengefunden haben, beschäftigen sich dort mit Einsamkeit. Mit der Presse möchte niemand von ihnen reden, und die Ver­an­stal­te­r*in­nen werben für Verständnis dafür. Sie haben bereits in anderen Zusammenhängen die Erfahrung gemacht, dass es geschützte Räume braucht, damit Menschen über ihre Einsamkeitsgefühle reden.

„Einige waren sehr aktiv. Für andere war es noch mehr ein Tabu – sie sagen: Einsamkeit betrifft mich nicht, oder ich kenne niemanden, der einsam ist“, fasst Katharina Schulz die Ergebnisse aus der Arbeitsphase zusammen. Schulz ist seit 2024 Einsamkeitsbeauftragte in Reinickendorf und auch Ehrenamtsbeauftragte. Sie zeigt Graffiti, die in einem der Workshops entstanden sind. „Winners“ steht auf einem. Unter dem Schriftzug ist eine Gruppe beieinander sitzender und stehender Strichmännchen zu sehen, im Vordergrund die Umrisse von einer allein sitzenden Person. Andere Gruppen arbeiteten mit Improtheater und mit kreativem Schreiben zum Thema Einsamkeit.

Wir wollen erreichen, dass die Jugendlichen achtsamer miteinander umgehen.

Katharina Schulz, Einsamkeitsbeauftragte von Reinickendorf

„Wie auch immer die Jugendlichen sich dem Thema heute geöffnet haben – das wird nachhallen“, sagt Schulz. Sie seien außerdem stolz auf ihre Bilder, die der Bezirk später ausstellen und versteigern will. „Wir wollen erreichen, dass die Jugendlichen achtsamer miteinander umgehen. Dass sie selbst merken, wenn sie sich einsam fühlen, es aber auch bei anderen eher wahrnehmen, wenn sie ausgeschlossen, isoliert oder allein sind.“

Um die 100 Kinder und Jugendliche von 13 bis 27 Jahren haben am Dienstag am dritten Reinickendorfer Einsamkeitsgipfel teilgenommen. Es ist der erste Gipfel, der Jugendliche und junge Erwachsene in den Fokus nimmt. Viele der Schü­le­r*in­nen kommen von den drei Schulen im Bezirk, die schon im vergangenen Jahr immer wieder zu dem Thema gearbeitet hatten. Die Kinder und Jugendlichen aus einer Gemeinschaftsunterkunft wiederum hatten sich mit Se­nio­r*in­nen zusammen im vergangenen Jahr bereits regelmäßig zu dem Thema ausgetauscht und am Ende zusammen Graffitis gesprayt.

Nachwirkungen von Pandemie und Lockdowns

Denn Einsamkeit ist ein Thema, das Jugendliche und junge Menschen direkt betrifft. So hatte etwa eine Befragung unter Ber­li­ne­r*in­nen während und nach der Pandemie gezeigt, dass die Gruppe der 18- bis 25-Jährigen besonders stark unter Einsamkeit leidet. Die Einsamkeit habe während des ersten Lockdowns zugenommen, nach der anschließenden Lockerung wieder abgenommen, im zweiten Lockdown wieder zugenommen und sei danach auf einem hohen Niveau geblieben. Das hatte der Psychiater Mazda Adli bereits beim Einsamkeitsgipfel im vergangenen Jahr betont.

Auch das war für Reinickendorfs Bezirksbürgermeisterin Emine Demirbüken-Wegner (CDU) ein Grund, den Fokus auf Jugendliche und junge Menschen zu richten. Demirbüken-Wegner, seit 2023 im Amt, hat im Bezirk eine Strategie gegen Einsamkeit initiiert. Sie hatte das Thema bereits als Sozialstadträtin vorangetrieben und Anträge im Abgeordnetenhaus gestellt. So hat Reinickendorf als erster Bezirk eine Einsamkeitsbeauftragte und sogenannte Quasselbänke aufgestellt, die dazu einladen sollen, ins Gespräch zu kommen. Und der Bezirk hat den 16. Dezember offiziell zum „Tag gegen Einsamkeit“ ausgerufen.

Einsamkeit definiert der Bezirk dabei als „sozialen Stress“ – in der Stressforschung gelte diese Form als „stärkster Stressor, den man kennt“, hatte der Psychiater Mazda Adli im vergangenen Jahr betont. Das gelte besonders für soziale Isolation, also einen Mangel an Kontakten und fehlende Verbundenheit mit anderen Menschen oder aktiven sozialen Ausschluss. Und Adli stellte fest: „Je jünger die Befragten, desto größer die angegebene Einsamkeit.“

Taner Avcı, Streetworker beim Träger Gangway und Sprecher für die AG „Einsamkeit Exit“ wies auf die besonderen Aspekte jugendlicher Einsamkeitserfahrungen hin. In dem Alter spielten Identität und Anerkennung eine große Rolle. Ablehnungserfahrungen oder Mobbing würden Jugendliche in einen Rückzug zwingen, in dem sie dann besonders empfänglich für radikale Strukturen in den sozialen Medien seien. „Die gehen in dieses Gefühl rein und nutzen es für ihre Zwecke, ob rechtsradikal, islamistisch oder frauenfeindlich“, sagt Avcı. Als So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen könnten sie dagegen kontrovers mit den Jugendlichen diskutieren. „Und es braucht Vertrauen und langfristige Beziehungsarbeit damit die Jugendlichen sich öffnen und auch erzählen, dass sie sich einsam fühlen“, sagt er.

Ziel der Strategie gegen Einsamkeit ist es, die Rei­ni­cken­dor­fe­r*in­nen erstmal überhaupt für das Problem zu sensibilisieren. Die Verantwortlichen wollen den Bür­ge­r*in­nen einerseits zeigen, welche Angebote gegen Einsamkeit es bereits im Bezirk gibt und andererseits vermitteln, was je­de*r Einzelne für gesellschaftlichen Zusammenhalt tun kann.

Keiner geht aus seiner Ecke raus und sagt: Ich bin einsam

Emine Demirbüken-Wegner (CDU), Bezirskbürgermeisterin von Reinickendorf

Schon beim Einsamkeitsgipfel im vergangenen Jahr hatte sich der Bezirk deshalb vorgenommen, Einsamkeit unter jungen Menschen und Jugendlichen in den Fokus zu rücken. Reinickendorf will damit nicht nur die Angebote ausbauen, sondern auch neue Zielgruppen ansprechen.

Bezirksbürgermeisterin Demirbüken-Wegner will die Ergebnisse aus den Workshops jetzt mit ihrem Team auswerten. Nach dem Gipfel im vergangenen Jahr waren Stammtische gegen Einsamkeit im Bezirk entstanden. Nun sollen entsprechend Angebote für Jugendliche entstehen. „Es müssen Räume sein, zu denen die Jugendlichen dann auch hinkommen“, sagt sie. Die Arbeit gegen Einsamkeit müsse „extremst niedrigschwellig“ sein, betont Demirbüken-Wegner. Nur so könnten sie Menschen auch erreichen. „Denn keiner geht aus seiner Ecke raus und sagt: Ich bin einsam.“

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1 Kommentar

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  • Ich kann's nicht mehr hören. Corona ist jetzt auch an der Einsamkeit der Jugendlichen schuld. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass es einfach nicht genügt, Kinder und Jugendliche mit einer Playstation oder einem Smartphone auszurüsten und diese damit alleine zu lassen. Die geplagten Eltern wollen offensichtlich einfach von ihren Sprösslingen in Ruhe gelassen werden. Wenn es jetzt Jugendliche aus irgendeinem Kaff wären, könnt' ich's ja noch verstehen. Aber Berlin bietet vermutlich viele Möglichkeiten, etwas gemeinsam zu unternehmen. Und lernen diese Jugendlichen nicht ganz selbstverständlich andere in der Schule, in der Ausbildung, an der Uni kennen. Vielleicht haben sie es einfach, wie oben angedeutet, nicht gelernt, mit anderen Menschen umzugehen.