Jugendberatungshaus in Berlin-Neukölln: Von wegen „faule Jugend“
In der offenen Einrichtung finden junge Menschen Hilfe bei Berufswahl und anderen Problemen. Das Konzept ohne Zwang und Termindruck funktioniert.
Es ist ein Donnerstagvormittag im Jugendberatungshaus Neukölln in der Glasower Straße. John* betritt den schlauchförmigen, langgezogenen Raum Büroraum und lässt sich auf einen Stuhl sinken und packt einen Schreibblock aus seinem Rucksack. Vor Kurzem hat der 26-Jährige ein Studium begonnen: Tourismusmanagement. Auf Vermittlung des Jobcenters kommt er seit dem Sommer regelmäßig hierher, ins Jugendberatungshaus in Neukölln.
Damals suchte John Unterstützung bei der Wahl eines passenden Studiengangs. Nachdem er sich mit der Hilfe einer Sozialarbeiterin des Jugendberatungshauses entschieden hatte, stand der Bewerbungsprozess an der Hochschule an: Lebenslauf schreiben, alle wichtigen Dokumente zusammentragen. Und dann war da noch der komplizierte BAföG-Antrag, gleichzeitig musste John seine Leistungen mit dem Jobcenter klären. „Ein riesiger Bürokratieberg“, erinnert er sich. Allein hätte er die Bewältigung der Aufgaben nicht geschafft.
Seit 2002 ist die Einrichtung Anlaufstelle für junge Menschen, die sich am Übergang von der Schule in den Beruf befinden und dabei Unterstützung brauchen. In Zeiten wirtschaftlichen Abschwungs und gesellschaftlichen Rechtsrucks drohen besonders marginalisierten Jugendlichen immer mehr, den Anschluss zu verlieren. Im Jugendberatungshaus finden sie niedrigschwellige Hilfe, ohne Zwang und Termin. Doch obwohl der Bedarf und die Kosten steigen, muss die Einrichtung jährlich um ihr Überleben kämpfen.
Noch ist es ruhig, außer John sind nur zwei weitere Jugendliche da. Sie sitzen an einer Insel aus Computertischen, über der sich ein gelber Sonnenschirm spannt, und überarbeiten beide ihre Lebensläufe. Die Tischecken, der lange Holztresen und die hochragenden Pflanzen erinnern an eine Mischung aus Co-Working-Space und Café.
Nicht nur Berufsorientierung
„Nach Schulschluss ist die Bude voll“, sagt Stefan Nowack, Vorstand der Neuköllner-Netzwerks-Berufshilfe, Trägerverein des Jugendberatungshauses.
Stefan Nowack, Netzwerk berufshilfe
Das „Kerngeschäft“ ist die Beratung mit dem Ziel der beruflichen Integration, erklärt Nowack. Doch verfolgt das Haus einen Anspruch, der über eine rein auf die schulische und berufliche Ausbildung ausgerichtete Beratung hinausgeht. Denn um jungen Menschen eine Perspektive zu eröffnen, braucht es einen umfassenden und strukturübergreifenden Ansatz – und einen Austausch „auf Augenhöhe“, wie Nowack betont.
So bündelt die Einrichtung verschiedene Projekte und Angebote unter einem Dach. Das Jugendberatungshaus ist Teil eines gewachsenen Beziehungsnetzwerks aus freien Trägern der Jugendberufshilfe, ebenso ist es ein fester Bestandteil der Jugendberufsagentur Neukölln und es kooperiert eng mit dem Jobcenter und Schulen des Bezirks. Gemeinsam stellen sie ein Angebot bereit, das schulische und berufsbegleitende Unterstützung ebenso umfasst wie psychosoziale, aufenthaltsrechtliche und leistungsbezogene Beratung. Diese Angebote laufen am Standort des Jugendberatungshauses zusammen.
Die meisten der Ratsuchenden werden von der Jugendberufsagentur Neukölln, der Arbeitsagentur, dem Jobcenter oder von Schulen vermittelt, andere kommen auf Empfehlung ihrer Freund*innen, sagt Nowack. Ob Schüler:innen und Absolvent:innen, die ein Praktikum suchen, Neuankömmlinge in Deutschland die einen Platz an einer Schule benötigen oder junge Menschen, die nicht wissen, wie sie aus ihren Schulden kommen sollen: Für all diese Fälle gibt es Hilfsangebote.
Jugendliche brauchen Ermutigung
Für die Erstberatung braucht es nicht einmal einen Termin. „Man kann hier einfach reinspazieren“, sagt Nowack, weggeschickt werde niemand. „Wir sagen nie: Du bringst etwas mit, das wir hier nicht bearbeiten können.“ Der niedrigschwellige Zugang trage wesentlich zur breiten Akzeptanz des Hauses unter jungen Menschen in Neukölln bei, sagt Nowack. Denn Termine bedeuten Verpflichtungen und können Druck erzeugen – und genau diesen wolle man vermeiden. „Wir begleiten die Jugendlichen auf ihrem Weg, aber ohne Zwang“, steht für den Vorsitzenden des Jugendberatungshauses fest. Weitere Pluspunkte seien die starke Vernetzung unter den Projekten, kurze Kommunikationswege und möglichst wenig Bürokratie.
„Wir erleben hier Jugendliche, die verunsichert sind, aber etwas wollen“, sagt Sozialarbeiterin Tanja Busse, die eigentlich anders heißt aber ihren richtigen Namen nicht nennen möchte.
Das Narrativ, die Jugend von heute sei faul und ideenlos, stößt auch bei Stefan Nowack auf Unverständnis. „Noch nie wurde so schlecht über Jugendliche geredet wie heute.“ Dabei fehle es Jugendlichen ohne ideale Startbedingungen häufig an Ermutigung und Selbstvertrauen. Genau das möchte das Jugendberatungshaus durch die enge Begleitung ändern.
Kleine Erfolge und Abschlüsse werden mit den Jugendlichen gefeiert, auch das gehört dazu. „Egal ob es der Schulabschluss, eine bestandene Sprachkursprüfung oder die Ausbildung ist“, ergänzt Busse, „Das empowert total.“
Das Konzept des Jugendberatungshauses funktioniert. Täglich finden rund 30 bis 40 Beratungen statt, die Altersspanne der Ratsuchenden reicht von 14 bis 27 Jahren. „Im Jahr kommen wir mit unseren Partnern auf rund 9.000 Beratungen“, sagt Nowack. Im Schnitt folgen auf die Erstberatung etwa drei weitere Termine, doch es gibt auch Jugendliche, die den Ort über mehrere Jahre aufsuchen. Rund 80 Prozent der Ratsuchenden verlassen das Angebot sozial stabilisiert und mit einer Perspektive. Das kann ein Schulabschluss sein, die Aufnahme einer Ausbildung oder eines Studiums, oder die Schaffung sozial und finanziell stabiler Rahmenbedingungen.
Hohe Erfolgsquote
Gerade junge Menschen, die im System wegbrechen, Diskriminierung erfahren oder sich in prekären Lebenslagen befinden, werden vom Beratungshaus aufgefangen. In den letzten Jahren hat zudem die Gruppe geflüchteter Jugendlicher einen hohen Zuwachs erfahren, deren zentrale Anlaufstelle im Beratungshaus der Jugendmigrationsdienst ist. Doch auch jenseits der Zahlen stellen Nowack und sein Team fest, dass der Unterstützungsbedarf konstant hoch ist und die Problemlagen gravierender geworden sind.
„Das politische Klima ist bei vielen Jugendlichen ein Riesenthema. Jugendliche mit Migrationsgeschichte haben Angst wegen Stigmatisierung, wegen alltäglichem Rassismus“, sagt Sozialarbeiterin Tanja Busse.
Ein solches Ereignis sei die Silvesternacht 2022 gewesen, in der nach berlinweiten, gewaltsamen Ausschreitungen gegen Sicherheits- und Rettungskräfte eine politisch und medial herbeigeführte Verengung auf Jugendliche mit Migrationsgeschichte in Neukölln stattfand. Diese Stigmatisierung bleibe an den Jugendlichen hängen. „Das hat psychische Auswirkungen und prägt ihre Zukunftsvorstellungen“, sagt Sozialarbeiterin Busse.
Um das vernetzte und niedrigschwellige Konzept aufrechtzuerhalten, braucht es finanzielle Sicherheit. Doch ist die vor dem Hintergrund der Sparmaßnahmen des Senats nicht gegeben. Finanziert wird das Jugendberatungshaus aus den Mitteln des Jugendamts Neukölln. Im Vergleich zu anderen sozialen Einrichtungen kann das Jugendberatungshaus aber nochmal aufatmen: Von weiteren Kürzungen wird es im kommenden Haushaltsjahr nicht betroffen sein.
Unsichere Zukunft
Doch ein enges Beziehungsgeflecht bedeutet auch: Einsparungen bei anderen freien Trägern machen sich unmittelbar bei der eigenen Arbeit bemerkbar. In der Bildungs- und Jugendarbeit überhaupt einzugreifen, hält Vereinsvorsitzender Stefan Nowack deshalb für fatal: „Das Weggefallene wieder aufzubauen, würde Kosten in dreifacher Höhe erzeugen und uns Jahre kosten.
Unterstützung kommt von der Neuköllner Jugendstadträtin Sarah Nagel (Linke), die sich den zunächst angekündigten massiven Einsparungen in der sozialen Infrastruktur für die Jahre 2026/27 vehement entgegengestellt hat – und zumindest das Schlimmste abwenden konnte. „Es wird keine Jugendeinrichtung schließen müssen und es wird auch keine Verringerung in der Schulsozialarbeit und Jugendsozialarbeit geben“, sagt Nagel.
Aber die strukturellen Probleme, die Kinder und Jugendliche in Armut besonders hart treffen, bleiben bestehen: beengte Wohnverhältnisse, fehlende Perspektiven. Jugendeinrichtungen seien für viele „ein zweites Wohnzimmer“, so die Linken-Politikerin, und müssten entsprechend gefördert werden.
Auch im Team um Stefan Nowack hält sich der Optimismus in Grenzen. „Man ist jedes Jahr erleichtert, wenn nur ein bisschen gekürzt wird, aber eigentlich müsste es viel mehr Geld im Sozial- und Bildungsbereich geben, um die Bedarfe abzudecken“, sagt eine Sozialarbeiterin. Selbst wenn Projektbudgets steigen, stünden diese nicht im Verhältnis zu den wachsenden Personal- und Sachkosten. „Es ist eine permanente Kürzung.“
*John und Mariam möchten nur mit ihren Vornamen genannt werden
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