Jüngster Bürgermeister Berlins: Der Ehrgeizige
Oliver Igel ist der jüngste Bezirksbürgermeister, den Berlin je hatte. Der SPD-Mann kämpft für den Erhalt von Natur und gegen Neonazis. Spurlos geht der Job an dem 33-Jährigen nicht vorbei.
Eigentlich sollte dieser Text schon früher erscheinen. Aber der Gesprächstermin mit Oliver Igel musste im März zweimal auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Der Grund: Beide Male war der Bezirksbürgermeister von Treptow-Köpenick überraschend ins Krankenhaus eingeliefert worden.
Jetzt empfängt er wieder Besucher in seinem Dienstzimmer im Rathaus Köpenick, dem roten Backsteingemäuer, das durch den Hauptmannstreich im Jahr 1906 auf einen Schlag weltberühmt wurde. Oliver Igel hat die Haare perfekt nach oben gegelt, auch die Krawatte sitzt perfekt, aber der SPD-Mann wirkt ein wenig müde. „Es war der Stress“ sagt der 34-Jährige. „Als Bürgermeister arbeite ich von morgens 7.30 Uhr bis spät in den Abend. Manchmal komme ich nur zum Schlafen nach Hause.“ Ja, er habe damit gerechnet, dass der Stress früher oder später der Gesundheit zusetze. „Erschreckt hat mich, dass das so früh passiert ist.“ Igel ist seit vergangenem Herbst im Amt. Vorher arbeitete der Literaturwissenschaftler bei der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und im Büro eines SPD-Bundestagsabgeordneten.
Politik und Lyrik
Das Thema mit der Gesundheit ist Igel unangenehm. „Die Arbeit ist schließlich ohne Alternative. Es geht mir nicht besser, wenn ich die Aktenberge auf meinem Schreibtisch einfach liegen lasse“, sagt er. Igel, der neben dem Bürgermeisteramt das des SPD-Kreisvorsitzenden stemmt und Lyrikbände von beinahe vergessenen Köpenicker Dichterinnen herausgibt, gilt als extrem fleißig und ehrgeizig. Im Oktober wurde er mit 33 Jahren zum jüngsten Berliner Bezirksbürgermeister aller Zeiten gewählt. „Geht das, mit so wenig Lebenserfahrung?“, fragten Zweifler aus allen Lagern. Oliver Igel wollte es ihnen zeigen. Mit Fleiß. Anliegen von Bürgern und Kollegen in der Behörde bleiben bei ihm nicht lange ohne Antwort. Das fällt auf und findet parteiübergreifend viel Lob.
Schon in seiner Schulzeit trat Igel in die SPD ein. „Als die Partei in den Umfragen ganz unten lag und es kaum junge Leute gab“, erinnert er sich. Seitdem stand er immer für den Generationswechsel: Zuerst als jüngstes Mitglied seiner Ortsgruppe, dann als jüngster Bezirksverordneter. Als jüngster Fraktionschef fiel er in der letzten Legislaturperiode durch geschliffene Reden und große Sachkenntnis auf.
Jwd, rechtslastig, wald- und wasserreich – diese Klischees schreibt der im Ortsteil Wilhelmshagen geborene und aufgewachsene Kommunalpolitiker seinem Bezirk zu. „Ich will natürlich dazu beitragen, dass das Grün, das Wasser und damit die hohe Lebensqualität erhalten bleiben“, sagt Igel, der im Sommer gern in Köpenicks Gewässern schwimmt. Nicht alles, was er dafür tut, ist populär.
Seit diesem Jahr gilt ein Grillverbot im Treptower Park, das vor allem Zuwandererfamilien aus den Nachbarbezirken Kreuzberg und Neukölln trifft. „Aber ich sehe nicht ein, dass wir die Unvernunft einiger weniger Grillfreunde so teuer bezahlen müssen“, sagt Igel. Dabei meint er nicht allein den Müll, den das Grünflächenamt jeden Montag beseitigen musste. „Unsere Gärtner haben mir erzählt, dass Äste vom historischen Baumbestand und Gras einfach in den Grill geworfen wurden, wenn die Kohle alle war. Da habe ich gesagt: Jetzt ist Schluss. Wir müssen den Park auch unseren Kindern noch erhalten.“ Als Alternative habe der Bezirk eine Fläche in Johannisthal zum Grillen ausgewiesen, in der Nähe von Rudow. Ob er glaubt, dass die Kreuzberger und Neuköllner den weiten Weg auf sich nehmen? „Ich würde mich freuen, wenn sie auch Johannisthal als Teil ihrer Stadt annehmen würden“, sagt er. Und fügt hinzu: „Das meine ich ernst.“
Damit ist er beim zweiten Klischee seines Bezirks: der Abgelegenheit. Johannisthal, Wilhelmshagen, Rahnsdorf, Schöneweide – für viele Berliner gehören diese Köpenicker Ortsteile eigentlich gar nicht mehr zu ihrer Stadt. „Das wird sich mit dem Flughafenausbau ändern“, ist Igel sicher. Brach liegende Grundstücke nahe des Airports, die seit 20 Jahren wie sauer Bier angeboten werden, seien plötzlich gefragt. „Der Horizont der Stadt wird sich in Richtung Süden verschieben“, sagt der SPDler, der entgegen der Parteilinie strikter Befürworter eines Nachtflugverbots ist: „Mir kann keiner vorrechnen, dass die Wirtschaftlichkeit des Flughafens an ein paar Nachtflügen hängt. Da sehe ich in der Verlärmung der Anwohner das weitaus größere Problem.“ Die Müdigkeit ist jetzt aus Igels Gesicht verschwunden, er hat sich warmgeredet. Er freue sich, sagt er, „wenn ich in ein paar Jahren meinen Amtskollegen in Mitte und Reinickendorf Kontra geben kann.“ Dann werde er sagen: „Nicht ich wohne jwd, sondern Sie.“
Mit der Veränderung der städtischen Peripherie, hofft er, werde sein Bezirk langfristig auch ein anderes Problem besser in Griff bekommen: die rechtsextreme Infrastruktur. Die Nazihochburg Schöneweide gehört für viele Engagierte aus Mitte und Schöneberg nicht mehr zu ihrer Stadt. Gefühlt liegt der Ortsteil für sie irgendwo zwischen Brandenburg und Sibirien. In diesem toten Winkel der Zivilgesellschaft gedeiht rechte Subkultur: Berlins bekanntester Nazitreff, die Kneipe „Zum Henker“, befindet sich hier, der von NPD-Landeschef Sebastian Schmidtke betriebene Ausstattungsladen „Hexogen“ sowie Clubs, in denen neben Rechten auch Rocker ein- und ausgehen.
Bei Protesten bleiben, von der autonomen Szene abgesehen, die wenigen Engagierten im Bezirk unter sich. „Ich bin Wolfgang Thierse dankbar, dass er im März hier einen Vor-Ort-Termin hatte und Landespolitiker mitbrachte“, sagt Igel. Barbara Loth beispielsweise kam mit nach Schöneweide. Für die Staatssekretärin in der Integrationsverwaltung, die ihren Wahlkreis in Steglitz hat, muss „eine Welt zusammengebrochen sein“, glaubt der Bürgermeister. Sie habe auf der Getränkekarte des „Henkers“ den Drink „Himla“ gesehen und Jugendliche getroffen, die schikaniert werden, weil sie nicht zur rechten Szene gehören. „Nach dem Termin hat sie uns ein Landesprogramm für Schöneweide versprochen“, freut sich Igel. „Ein Patentrezept gegen rechts habe ich auch nicht, aber für mich steht fest: Wir müssen mehr Leute erreichen.“
Stets korrekt gekleidet
Oliver Igel ist am idyllischen Müggelsee zu Hause, wo Einfamilienhäuser stehen und Reiher auf Fischsuche übers Wasser ziehen. Im Schmuddel-Ortsteil Schöneweide wirkt der stets korrekt gekleidete Bürgermeister ein wenig wie ein Fremdkörper. Doch das Thema hat er als Aufgabe angenommen, im Rechtsextremismus sieht er die größte Gefahr für den Bezirk: „Mit der Hochschule für Technik und Wirtschaft, den naturwissenschaftlichen Instituten in Adlershof und der Schauspielschule sind wir ein Hochschulstandort. Und wenn ich von den Hochschulen höre, dass sich ihre internationalen Studenten nicht trauen, in Schöneweide umzusteigen, aus Angst, angepöbelt oder niedergeknüppelt zu werden, dann ist das ein ernstes Problem.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind