Jüdisches Leben in Berlin: Eine Wahl, die nicht sein dürfte
Um die Wahl des Parlaments der Jüdischen Gemeinde zu Berlin tobt ein erbitterter Streit. Trotzdem soll sie am Sonntag stattfinden.
Meidler-Waks gehört zum Oppositionsbündnis „Tikkun Berlin“, das sich aus Protest von der Wahl zum Gemeindeparlament zurückgezogen hat. Mehrere Mitglieder des Bündnisses waren zuvor von der Kandidatur ausgeschlossen worden. Das Bündnis wendet sich an die Gemeindemitglieder und ruft dazu auf, sich für „freie, demokratische und geheime Wahlen“ einzusetzen.
Die Sache ist kompliziert. Und sie wird nicht einfacher durch den Umstand, dass die Wahl im Juli vom Gericht des Zentralrats der Juden in Deutschland für unzulässig erklärt worden ist. Der Vorsitzende der Jüdische Gemeinde zu Berlin, Gideon Joffe, spricht in dieser Hinsicht von einem „massiven Eingriff in die Satzungsautonomie“ und will die Wahl unbedingt durchziehen.
Unzulässige Änderungen
Der Stein des Anstoßes: Ende Mai hatte der derzeitige Vorstand unter Joffes Leitung eine neue Wahlordnung mit einschneidenden Änderungen erlassen. Das unabhängige Gericht beim Zentralrat, dem ausschließlich zum Richteramt befähigte Personen nach der Deutschen Richterordnung angehören, betrachtet diese Änderungen aber als unzulässig. Die Rechte von möglichen Kandidatinnen und Kandidaten würden empfindlich verletzt. Die Wahlordnung sei „willkürlich“ und verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz, erklärte das Gericht nach einer Beschwerde von Gemeindemitgliedern. Und untersagte daraufhin am 21. Juli die Wahl.
Die Wahlordnung schließt Gemeindemitglieder von der Kandidatur aus, wenn sie über 70 Jahre alt sind, sofern sie nicht dem amtierenden Vorstand angehören. Auch Amts- und Mandatsträger ausgewählter jüdischer Organisationen, etwa des Zentralrats oder des Sportvereins TuS Makkabi, dürfen nicht kandidieren. Gideon Joffe sagt dazu, es könne eben nicht jeder kandidieren. „Wir haben überlegt, wer sollte definitiv mitmachen können und wo sollte man vielleicht ein bisschen aufpassen. Es darf nur derjenige mitmachen, der sich eindeutig zur Gemeinde bekennt.“
All das missachtet nach Ansicht des Gerichts Grundprinzipien einer fairen Wahl. Nathan Gelbart, Anwalt der Beschwerdeführer, sieht darin eine gezielte Manipulation durch die derzeitige Gemeindeleitung. „Meiner Einschätzung nach geht es darum, das Potential an möglichen Konkurrenten zu dezimieren, soweit es nur geht.“
Nun rumort es schon seit Jahren in der Berliner Gemeinde. Von einem „Klima der Angst“ sprechen die Kritiker Joffes. Unter seiner Leitung sei die Gemeinde um mehr als 3.000 Mitglieder auf heute nur noch gut 8.200 geschrumpft, sagt Sigalit Meidler-Waks. Sie gehört der Gemeinde seit Jahrzehnten an, leitete viele Jahre die Jüdische Volkshochschule. Die Gemeinde stecke seit Jahren in der Krise. Viele hätten sich aus Enttäuschung und Frustration abgewandt.
Pause von zwei Legislaturperioden
Zu den ausgeschlossenen Kandidaten von „Tikkun Berlin“ („Tikkun“ bedeutet so viel wie „Reparatur“) zählt unter anderem Boris Rosenthal. Er war Vertrauenslehrer am Jüdischen Gymnasium Moses Mendelssohn, geschätzt unter Schülern und Kollegen. Ihn traf ein weiterer Passus der neuen Wahlordnung, die festlegt, dass ehemalige Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinde erst nach Ablauf von zwei Legislaturperioden, also nach zwölf Jahren, kandidieren dürfen.
Rosenthal kam als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland. Er sagt: „Ich kam in dieses demokratische Land, habe die Freiheit genossen. In den letzten zehn Jahren habe ich das in der Jüdischen Gemeinde vermisst.“
Auch Lala Süsskind engagiert sich für „Tikkun Berlin“. Sie leitete die Gemeinde von 2008 bis 2012. Mit ihren 77 Jahren durfte sie nicht erneut antreten. Als sie zuvor die für eine Kandidatur notwendigen 65 Unterschriften sammelte, hätten Freunde aus Angst vor der Reaktion Joffes nicht unterschrieben. „Dieser hohe Herr und seine Konsorten setzen sich hin und prüfen jegliche Unterschriften, die die Kandidaten gesammelt haben“, sagt Süsskind. Einige hätten ihr gegenüber die Sorge geäußert, im Gemeindealltag benachteiligt zu werden.
An diesen Vorwürfen sei nichts dran, entgegnet Joffe empört: „Es gibt keine Repressalien zu befürchten. Das ist absoluter Quatsch.“
Zu wenig Beteiligung
Die Gemeindeleitung tue zu wenig für ihre Mitglieder, sagt der 22-jährige Student Raphael Poljakow, der mit dem Bündnis „Le kulam“ („Für alle“) zur Wahl antritt. Poljakow wünscht sich mehr Beteiligung vor allem junger Menschen. In seinem jüdischen Freundeskreis, schätzt er, sei nur noch gut jeder Vierte in der Gemeinde: „Mich macht das wütend, dass man als Gemeindemitglied weder was zu sagen hat, noch dass die Gemeindeführung sich für einen interessiert.“ Die neue Wahlordnung, die das passive Wahlrecht massiv einschränke, habe das Ziel, „jegliche Kritik am Vorstand im Keim zu ersticken“.
Anders als das Bündnis „Tikkun Berlin“ haben die sechs Kandidaten von „Le kulam“ nicht zurückgezogen. Trotz der Bedenken. „Wenn wir jetzt zurücktreten“, sagt Emanuel Adiniaev, der Gideon Joffe lange Zeit nahestand, „spielen wir der einzigen verbliebenen Partei in die Hände. Die braucht dann gar nicht mehr auszählen, sondern deren Kandidaten können direkt in die Ämter ernannt werden.“
Die Wahl – auch dies hatte das Gericht beim Zentralrat beanstandet – findet ausschließlich als Briefwahl statt. Als besonders heikel betrachtet „Le kulam“ die Pflicht zum Beilegen einer Ausweiskopie im eingereichten Wahlbrief. Adiniaev hält das nicht nur aus datenschutzrechtlichen Gründen für bedenklich. Es schrecke manche auch ab, zu wählen. Das Bündnis „Le kulam“ ruft offen zum Boykott der Wahl auf und kündigte an, das Ergebnis in jedem Fall anfechten zu wollen.
Gideon Joffe hält freilich unbeirrt an der Wahl fest. Er sieht sich in einem Machtkampf um die Gemeindeautonomie. „Wir denken, es ist unsere Verpflichtung, kleineren Gemeinden, die sich nicht so gut wehren können, ein Vorbild zu sein.“ Das Gericht hält er für nicht zuständig und verweist auf den eigenen Schiedsausschuss: „Keine einzige Institution auf der Welt kann in die Jüdische Gemeinde zu Berlin hineinregieren.“ Das Gericht sieht das anders. Es hat klargestellt, dass der Schiedsausschuss der Berliner Gemeinde zur Klärung der in diesem Fall aufgeworfenen satzungsrechtlichen Fragen nicht berufen sei.
Keine Stellungnahme im Senat
Auffallend bedeckt hält sich bislang die Senatskulturverwaltung. Man verfolge den Konflikt in der Jüdischen Gemeinde „aufmerksam“, könne jedoch keine Stellungnahme abgeben, heißt es auf Anfrage aus dem Haus von Kultursenator Joe Chialo (CDU).
Dabei hat das Bündnis „Tikkun Berlin“ eine klare Forderung an die Politik. Sigalit Meidler-Waks sagt: „Wir erwarten vom Senat, dass er sich positioniert. Denn es gibt nun mal das Urteil. Der Großteil des Budgets wird aus Steuergeldern bezogen und ich finde, der Senat hat hier auch eine Fürsorgepflicht. Die Gemeinde ist schließlich kein rechtsfreier Raum.“
Sollte die Gemeinde bei ihrer Linie bleiben und die Wahl am Sonntag wie angekündigt durchführen, drohen nicht nur Bußgelder, sondern im äußersten Fall ein Ausschluss aus den Gremien des Zentralrats für zwei Jahre.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball