Jüdischer Almanach zum 7. Oktober: Die Katastrophe
Der Jüdische Almanach ist diesmal Ergebnis eines besonderen Projekts. Israelis diskutieren darin die Folgen des Pogroms vom 7. Oktober.
„Zuerst war da nur ein Pfeifen.“ Mit diesen Worten beginnt ein Buch zum zum 7. Oktober 2023 . Diese Worte schreibt Amir Tibon, und er beschreibt damit das Geräusch, das er an einem Morgen noch im Halbschlaf registrierte. Es war der Beginn des Hamas-Überfalls auf den Kibbuz Nahal Or. Das Geräusch kam von einer Granate. Die vierköpfige Familie flüchtet sich in einen Schutzraum. Viele Stunden später werden sie gerettet. Doch nicht alle ihre Nachbarn hatten dieses Glück.
Der jährliche Jüdische Almanach blickt auf eine lange Geschichte zurück. Seine erste Ausgabe erschien 1902 als ein Zeichen einer eigenen, jüdischen Kultur. Die frühere Zeit-Reporterin Gisela Dachs hat aus dem Almanach in den letzten Jahren ein Diskussionsforum geschaffen.
Dachs erzählt bei der Buchpremiere von einem Anruf aus Berlin, den sie vor einem Jahr erhielt. Am anderen Ende der Leitung war Thomas Sparr vom Suhrkamp Verlag. Man müsse „alles umwerfen“, habe der angesichts des 7. Oktober gesagt. Das war der Beginn für ein besonderes Projekt. Der diesjährige Almanach versammelt ausschließlich israelische Stimmen zum 7. Oktober.
„7. Oktober. Stimmen aus Israel. Jüdischer Almanach 2024“. Hg. v. Gisela Dachs im Auftrag des Leo Baeck Instituts Jerusalem. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 203 Seiten, 23 Euro
Es ist nicht so, dass es sich dabei vor allem um Texte handelt, die das furchtbare Geschehen in seinen grässlichen Details transportieren. Das wäre Pornografie. Fast alle Geschichten drehen sich um die Interpretation des Massenmords. Einigkeit besteht in einem Punkt: Der 7. Oktober 2023 ist eine bleibende Katastrophe.
Nach dem 7. Oktober strömten Israelis zurück in ihre Heimat
Der Schriftsteller David Grossman bringt die Reaktionen in Israel auf den Punkt, wenn er schreibt, dass „die tiefe Verzweiflung, die die meisten Israelis nach dem Massaker erleben, vielleicht daher rührt, dass wir in die jüdische Existenz zurückgeworfen wurden, in die Existenz eines schutzlosen und verfolgten Volkes“. Israel, schreibt Grossman, sei der einzige Staat, „zu dessen Vernichtung man aufrufen kann“.
Doch auch Stolz strahlen einige Texte aus – Stolz auf die unmittelbaren Reaktionen, die Selbsthilfe angesichts der Unfähigkeit des Staates nach dem Massaker, die Unterstützung der Überlebenden, den Kampf für die Befreiung der Geiseln. Und auf ein besonderes Phänomen: In anderen Ländern ergreifen junge Männer die Flucht, wenn ein Krieg droht. Nach dem 7. Oktober strömten Israelis aus dem Ausland zurück in ihre Heimat.
Einig sind sich die Autoren darin, dass weder Israelis noch Palästinenser aus dem Landstrich am Mittelmeer verschwinden werden. Aber wie zusammenleben nach dem genozidalen Angriff? Wie Vertrauen schaffen?
Zionismus ist eine National-, keine Kolonialbewegung
Sollte man etwa als aufgeklärter jüdischer Israeli den Zionismus über Bord werfen, weil dieser als koloniales Projekt geschmäht wird?
Nein, schreibt Fania Oz-Salzberger, denn es handele sich um eine National- und nicht um eine Kolonialbewegung, und außerdem gebe es einen „humanistischen Zionismus“.
Die Soziologin Eva Illouz geht in ihrem Beitrag zum Angriff auf „Israel-kritische“ Eiferer über, deren Protagonistin Judith Butler die Auffassung vertrat, die Hamas sei keine Terror-, sondern eine Befreiungsorganisation. Illouz wirft den Vertretern solcher Vorstellungen vor, merkwürdige Affinitäten zu religiösem Konservatismus im Islam zu hegen, Meinungsfreiheit, Aufklärung und Emanzipation zu Grabe zu tragen.
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