Jüdische Solidarität für die Ukraine: Im Grunde Überlebensmusik
Ein Sampler mit Songs von jüdischen Künstler:Innen aus aller Welt zeigt sich solidarisch mit der Ukraine: „Rusishe krigshif, shif zikh in dr'erd“
Auch Kunst hilft der Ukraine dabei, den Krieg zu gewinnen. Davon überzeugt sind Kiewer KünstlerInnen, die das Projekt „Artdopomoga“ (deutsch: Kunst hilft) ins Leben gerufen haben. Auf ihrer Webseite lässt sich Kunst erwerben, die seit Beginn des Krieges von Russland gegen die Ukraine entsteht, und unterstützt damit direkt das Land bei seiner Verteidigung gegen den russischen Aggressor.
Kulturwissenschaftlerin Victoria Zubenko hatte die Idee, einen Seidenschal entwerfen zu lassen, dessen Muster sich an Mosaiken anlehnt, die in den 1960er Jahren von ukrainischen Künstler:Innen für Bushaltestellen entworfen wurden. Hauptsächlich werden Sticker angeboten. Darunter ist einer mit einem blauen Stinkefinger, der gleichzeitig als Leuchtturm gelbes Licht aussendet. Darüber schwebt die unmissverständliche Parole: „Russian warship, go fuck yourself!“
Artdopomoga vertreibt auch Musik. Der Sampler „Artdopomoga Ukraine“ enthält Musik, die nach dem 24. Februar produziert worden ist. So zeugt das Lied „Teroborona“ (Zivilverteidigung) der US-ukrainischen Folkband Gogol Bordello von den ersten Kriegstagen.
Aufgenommen während Kampfeinsatz
Das Lied „Towers“ hat der Sänger Mandry während eines Kampfeinsatzes in der ukrainischen Hauptstadt aufgenommen – am Handy. Mandry begleitet sich auf der Gitarre, beamt sich weg aus der verheerenden Situation und besingt die Sonne – also das Leben – das er so liebt. Nun ist ein zweiter Sampler bei Artdopomoga erschienen: „Rusishe krigshif, shif zikh in dr´erd. Jewish Voices condemn Russia's war against Ukraine“.
29 Tracks von jüdischen Künstler:Innen aus aller Welt sind hier versammelt. Einige der Künster:lnnen leben in der Ukraine, andere haben ihre Wurzeln dort und sind quer über den Erdball verstreut. Und so finden sich viele jiddische Songs auf dem Sampler, dessen Titel die jiddische Version von „Russisches Kriegsschiff, fick dich“ ist.
Verschiedene Künstler:Innen: „Rusishe krigshif, shif zikh in dr'erd. Jewish Voices condemn Russia's war against Ukraine“ (Artdopomoga)
Fast jeder Song trägt die DNA der ostmitteleuropäischen Shtetl-Musikkultur in sich. Die springende kletternde Klarinette, die Geige, die tanzt, das Akkordeon, das spazieren geht. Es ist die Musik des Klezmer, die in jedem Shtetl in Galizien zu Hause war, jede jüdische Hochzeit untermalte und mit dem Holocaust verstummt ist. So wie auch das Jiddische, die Muttersprache der jüdischen Bevölkerung, dort verschwand.
Klezmerrevival hält an
Seit den 1980er Jahren erlebt der Klezmer ein langanhaltendes Revival. Es ist eine unglaublich lebensbejahende Folkmusik, geboren in einer Gemeinschaft, die im jüdischen Ansiedlungs-Rayon des Zarenreiches durch Pogrome immer wieder in ihrer Existenz gefährdet war. Klezmer war im Grunde Überlebensmusik.
Und ist seit Kriegsbeginn erneut Überlebensmusik. Mark Kovnatskiy hat im Jahr 2021 ein wunderschönes Stück Klezmer eingespielt, das auf dem Sampler zu hören ist. Es heißt: „Kolomeyke, Moldavishe Hora. Sirna Moloveneasca“. Kovnatskiy, der aus der Ukraine stammt, einen russischen Pass hat und in Hamburg wohnt, vertont hier Orte und Landschaften. Zum Beispiel die Moldauer Berge.
Die Geige klettert also mühelos die Hügel hinauf, sie läuft irgendwo rastlos umher und legt einen Rhythmus vor, der schon beim Zuhören schwindlig macht. Und sie kommt beim Klavier an. Beim Einsetzen des Klaviers wird die Geige langsamer, ihre Tonlage wird tiefer und der melancholische Sound, der den Klezmer trotz all seiner Vitalität immer begleitet hat, tritt hervor. Und jetzt kann bzw. könnte getanzt werden.
Sanfte Hügellandschaft
Und dann läuft die Geige wieder weg. Durch die weite sanft hügelige Landschaft der Westukraine – und wird dabei immer schneller. Solche Bilder entstehen beim Zuhören ganz selbstverständlich vor dem inneren Auge und stellen sich neben Aufnahmen von Angriffen auf Shitomyr, eine westukrainische Kleinstadt, in der bis zum Holocaust die Mehrzahl der Bevölkerung jüdisch war.
Die Band The Anti-DicKtators nimmt die Klezmer-Geige und singspricht darüber einen Anti-Kriegs-Rap. Die russischsprachigen Anti-Diktatoren, die sich zusammengefunden haben, um gegen den Krieg zu singen, verweisen in ihrem musikalischen Beitrag auf den nuklearen und globalen Kontext des russischen Angriffs. So stellen sie am Anfang des Songs „Russian warship (Go F…k Yourself!) fest: „Das russische Monster will die Menschheit ausrotten.“
Solange Musik gespielt wird, ist die Menschheit noch da. Mark Kovnatskiys Klezmer-Geige ist übrigens zu hören am 7. August beim „Yiddish Summer“ in Weimar. Möglicherweise ist der Krieg im August schon vorbei. Artdopomoga bringt einen auf diesen mit vorsichtiger Zuversicht durchwebten Gedanken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland