Joy Williams Buch „Stories“: Mit tiefer Verwunderung
Was Menschen sich antun, und wie sie ihr Leben meistern: In „Stories“ von Joy Williams ist eine große Erzählerin zu entdecken.
Der in seiner Schlichtheit fast schon wieder prahlerische Titel „Stories“ sagt es deutlich – Joy Williams müssten wir eigentlich alle kennen. Hierzulande kann man allerdings nicht mal von einer Wiederentdeckung sprechen.
Die beiden bisher auf Deutsch erschienenen Story-Bände „Sommer“ und „Der kleine Winter“, mit einigen Überschneidungen zur aktuellen Sammlung, sind drei Jahrzehnte alt und haben keinen großen Eindruck hinterlassen, weil Erzählungen schon damals keinen Markt hatten und Erzählungen von Frauen vielleicht noch weniger. „Stories“ bietet nun eine Gelegenheit, dieses offensichtliche Rezeptionsversäumnis nachzuholen.
Ihr Kommilitone Raymond Carver hat die Arbeit der heute 79-Jährigen sehr geschätzt, und man ahnt schon, warum. Auch Williams betrachtet die Realität so lange, bis sie einem irgendwann ganz fremd erscheint. Es sind die Geheimnisse des Profanen, die sich ihrem detailscharfen Blick fast selbstverständlich offenbaren, einer Normalität, die anfangs fast schon aufgeräumt erscheint und dann unmerklich ins Unheimliche, Verstörende, Abgründige, aber auch schon mal Komische hinübergleitet.
Schuldig ohne zu wissen warum
In der Geschichte „Die Mutterzelle“ umrundet Joy Williams bedächtig einen Kreis von Müttern, deren Kinder wegen Mordes im Gefängnis sitzen. Die Frauen treffen sich regelmäßig zum Plaudern, bezeichnen sich aber ausdrücklich nicht als „Selbsthilfegruppe“. Weil ihnen nicht zu helfen ist. Sie sind schuldig, und wissen doch nicht, was sie sich vorwerfen sollen. Sie stehen unter Beobachtung, und wie sie sich auch verhalten, sie können es ihre Umgebung nicht recht machen.
Joy Williams: „Stories“. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz. dtv, München 2023, 304 Seiten, 25 Euro
Leslie etwa wohnt neben einer Frau, die ihren Jungen im Krieg verloren hat, und bereits wenn sie grüßt, zischt die Nachbarin sie an. „Sie hat einen Kirschbaum gepflanzt, wahrscheinlich für den Jungen, und der Baum hat die Pflanzengalle. Erst ein paar Jahre alt, und jetzt hat er diesen riesigen Klumpen. Ich weiß, es muss ihr das Herz brechen. Ich würde ihr ja gern sagen, dass manche Gallen auch nützlich sind. Sie geben dem Erdboden Stickstoff zurück, und das ist gut. Und in mancher Hinsicht sind sie auch für den Menschen nützlich.“
„Du weißt sehr viel, Leslie“, antwortet darauf eine andere Mutter, „aber ich glaube, aus deinem Mund würde das der Frau keinen Frieden bringen.“
Alle Schattierungen der Melancholie
Das ist womöglich das „Wunder“, das Carver in Williams’ Geschichten ausmacht: dass sich die US-amerikanische Tristesse hier nicht nur in allen Schattierungen der Melancholie präsentiert, sondern dass sie ihr auch so etwas wie Komik abgewinnen kann, eine lakonische, unverfrorene Komik.
Ihr Beobachtungsmodus ist fast immer tiefe Verwunderung – darüber, wie Menschen agieren, was sie einander antun, aber auch mit welcher Beharrlichkeit, sie ihr Leben zu meistern versuchen. Der Priester in der ersten Geschichte „Liebe“ zum Beispiel, „ausgemergelt vom Glauben“ kümmert er sich rührend um das Baby seiner Tochter, die auf einem Selbstfindungstrip in Mexiko weilt, und bangt um das Leben seiner leukämiekranken Frau. Schließlich holt er sie aus dem Krankenhaus nach Hause, um ein letztes Weihnachten mit ihr zu feiern.
Dieses vehemente Durchhaltevermögen der Protagonisten erscheint ihr umso erstaunlicher, als alte Sinnstiftungsinstanzen wie Religion, Freundschaft und Familie sich nicht immer als besonders hilfreich in der Krise erweisen. In „Letzte Generation“ freundet sich der neunjährige Tommy mit Audrey, der Ex seines älteren Bruders an.
Poetische Beschreibungsprosa
Tommys Mutter ist gestorben, der Vater mit seiner Trauer beschäftigt, der Bruder mit seinen Hormonen, und so umgarnt ihn das Mädchen mit ihrem moribunden Gerede, das direkt aus der Giftküche einer Southern-Gothic-Sekte kommen könnte.
Der Horror kündigt sich nur an, er bleibt implizit, beispielsweise in einem Pullover „mit kleinen, in Reihen rennenden Tieren drauf. An den Nähten von Ärmeln und Kragen sah man nur Teile von den kleinen Tieren.“
Nur die Erzählung „Kongress“, in der sich ein namhafter Forensiker bei einem Jagdunfall selbst lobotomiert und seine Ehefrau eine Beziehung mit einer zuvor von ihm aus Rehläufen gebastelten Lampe eingeht, gehorcht allzu offensichtlich einer Traumlogik. Sie fällt heraus und qualitativ auch etwas ab.
Ihre anderen Geschichten brauchen diesen Sprung ins Fantastische gar nicht, der Albtraum steckt in der Realität selbst, und Joy Williams macht ihn kenntlich mit ihrer zweckmäßigen, metaphernlosen und trotzdem poetischen Beschreibungsprosa.
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