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Journalist Ochotin über Russlands Medien„Information schützt“

Trotz institutionalisierter Repressionen wächst der Protest in Russland. Grigori Ochotin begleitet diesen journalistisch mit OVD-Info.

„Bericht­erstattung über ­Repressionen wächst schneller als die Repressionen selbst“, sagt Ochotin Foto: dpa
Paul Toetzke
Interview von Paul Toetzke

taz: Herr Ochotin, 2019 gingen Tausende auf die Straße nachdem der Oppositionskandidat für die Stadtratswahl in Moskau nicht zugelassen wurde – nur ein Protest von vielen. Hat sich die Haltung gegenüber der Staatsgewalt verändert?

Grigori Ochotin: Was sich rasend schnell verändert, ist die Wahrnehmung von Repressionen. Vor ein paar Jahren waren repressive Maßnahmen noch extrem effektiv. Die Menschen reagierten mit Passivität und Angst. Aber inzwischen manifestieren sie ihre Positionen durch Solidaritätsschreiben oder Kundgebungen.

Woher kommt diese Veränderung?

Die Leute haben das Gefühl, dass ihre Handlungen etwas bewirken. Im Sommer gab es eine riesige Repressionskampagne mit einem Festnahmenrekord. Aber es war auch das erste Mal, dass durch öffentlichen Druck sehr viele Leute freigelassen wurden. Im Moment sieht es sogar so aus, als sei mindestens die Hälfte von ihnen wieder auf freiem Fuß.

Sie haben 2011 OVD-Info gegründet, wie unterscheidet sich die aktuelle Situation zu damals?

Vor 2011 zielten Repressionen vor allem auf bestimmte „Feinde“ wie Eduard Limonow (Schriftsteller und politischer Dissident) oder Michail Chodorkowski (Unternehmer, der im Exil lebt). Danach wurden die Maßnahmen auf die gesamte Gesellschaft ausgeweitet. Heute sind politische Gesetze in die Gesetzgebung integriert, um zivile Aktivitäten zu begrenzen: Die Repressionen sind institutionalisiert.

Das heißt, die Menschen haben weniger Angst, obwohl die Restriktionen schärfer sind.

Ja, aber auch andere Faktoren spielen eine Rolle. Zum Beispiel wächst die Berichterstattung über Repressionen schneller als die Repressionen selbst. Das heißt, die Menschen sind deutlich besser informiert. Vor ein paar Jahren dachte ein Großteil der Gesellschaft, sie würden sich nicht gegen sie wenden. Jetzt wissen sie: Morgen kann es mich treffen.

Im Interview: 

Grigori Ochotin ist ein russischer Journalist und hat das unabhängige Menschenrechts- und Medienprojekt OVD-Info während der Proteste 2011 in Moskau gemeinsam mit dem Informatiker Daniil Beilinson gegründet.

OVD-Info sammelt über eine Hotline und einen Telegram-Bot Daten zu Repressionen und Verhaftungen und veröffentlicht diese in Form von Expressnachrichten und Berichten. Außerdem leistet die Plattform Rechtshilfe für politisch Verfolgte. Das EU-geförderte Projekt finanziert sich über Crowdfundings (2019 kamen 70 Prozent der Einnahmen über Spenden). Aktuell hat OVD-Info 36 feste Mitarbeiter und über 200 Freiwillige.

Während der Proteste 2011 haben Sie und Ihr Kollege Daniil Beilinson erstmals Fälle von politischen Repressionen dokumentiert. Heute ist OVD-Info in Russland die wichtigste Quelle für Repressionen und Festnahmen. Wie kommen Sie an die Informationen und wie werden sie verifiziert?

Wir haben eine Nachrichtenagentur, die Fälle von politischen Repressionen durch eine 24-Stunden-Hotline und einen Telegram-Bot aufzeichnet. Bei Massenfestnahmen ist es normalerweise leicht, eine zweite Quelle zu finden. Bei einzelnen Fällen ist das schwieriger. Aber es gibt ständige Updates mit den neuesten Entwicklungen, die wir mit den Daten unserer Anwälte gegenprüfen. Und Intuition spielt eine Rolle. Unsere Hotline-Mitarbeiter sind sehr erfahren.

Was macht OVD-Info noch?

Wir haben Anwälte, die kostenlose Rechtshilfe anbieten. Unser neuestes Produkt ist ein Tool, dass das Einreichen einer Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vereinfacht. Der dritte Bereich ist die Datenanalyse zu den Themen Versammlungsfreiheit und Zivilrechte. Das hilft uns, zu planen. Unser Motto ist: Information schützt.

Ihr Vater ist einer der Gründer von Memorial, einer NGO für die Aufarbeitung der stalinistischen Gewaltherrschaft und ihrer Opfer. Sehen Sie Ihre Arbeit als Fortsetzung seines Engagements?

In gewisser Weise, ja. Unsere Arbeit basiert auf der Freiheit, die sie erkämpft haben. Was wir machen, ist das Gleiche, nur mit anderen Mitteln. Memorial hatte keine Möglichkeit, selbst einzugreifen. Wir haben viel mehr Werkzeuge.

Wie wichtig sind diese Werkzeuge?

Sehr wichtig. Alle neuen Internettechnologien wie Facebook oder YouTube helfen unserer Agenda. Sie machen Teilhabe und Kommunikation billiger und schneller. Ich glaube weiterhin an das emanzipatorische Potenzial des Internets, weil es keine Hierarchien kennt, weder in der Struktur der Technologie noch in der Denkweise der Entwickler.

Auch in Russland?

Ja, auch in Russland ist das Internet noch vergleichsweise frei. Seit fünf Jahren gibt es zwar immer mehr Gesetze, um Online-Aktivitäten einzuschränken. Aber trotzdem sind Online-Aktivitäten noch deutlich freier als Offline-Aktivitäten.

Der Kreml arbeitet im Moment am sogenannten Runet, einem eigenen Internet, um sich vom internationalen Netz abtrennen und den Verkehr ausschließlich über nationale Server steuern zu können.

Davor habe ich keine Angst. Bei der Entwicklung von Technologien gibt es immer einen Wettbewerb zwischen denjenigen, die für mehr Freiheit kämpfen, und anderen, die diese begrenzen wollten. Aber die Macht wird immer mit denen sein, die für Freiheit sind.

Was macht Sie so sicher?

Es geht dabei nicht um Geld, sondern um Verstand, und Menschen, die für Freiheit sind, sind in der Regel intelligenter. Russische Behörden haben versucht, Telegram zu verbieten, weil Telegram-Gründer Pawel Durow sich weigerte, Nutzerdaten an den russischen Geheimdienst FSB herauszugeben. Doch Telegram wechselte auf ausländische Server und konnte so weiter funktioniere. Dank einer riesigen Unterstützungswelle aus der IT-Branche scheiterte das Verbot. Das russische Internet basiert auf Freiheit und internationalem Verkehr. Die Entwicklung wurde von privaten Akteuren vorangetrieben, nicht wie in China, wo der Staat von Anfang die Kontrolle hatte.

Im Dezember 2019 hat Putin ein Gesetz unterschrieben, dass es erlaubt, Individuen als ausländische Agenten zu kennzeichnen und sie so unter die Überwachung der Behörden zu stellen. Glauben Sie, dass das Gesetz einen Einfluss auf Meinungsfreiheit im Internet haben wird?

Sicher. Politische Repressionen funktionieren folgendermaßen: Eine Minderheit ist tatsächlich unterdrückt und die Masse ändert ihr Verhalten. Ein Beispiel: Als das erste Gesetz zu ausländischen Agenten verabschiedet wurde, haben einige NGOs keine ausländischen Gelder mehr angenommen und keine Berichte mehr veröffentlicht. Jetzt kann es also gut sein, dass sich Leute gut überlegen, was sie auf Facebook posten.

Trotz all Einschränkungen ist die Medienlandschaft in Russland sehr dynamisch. In den letzten Jahren wurden alternative ­Medienunternehmen wie Mediazona oder The Bell gegründet. Woher kommt der Mut?

Wir vergessen oft, dass Restriktionen auch positive Auswirkungen haben können. 2011 gab es zwar mehr Medienunternehmen mit höheren Budgets, die sich unabhängig nannten. Doch sie wurden von Oligarchen kontrolliert. Als die Behörden die Medien zunehmend unter Druck setzten, verließen viele Chefredakteure ihre Häuser und es entstanden neue, unabhängige Medienunternehmen, von denen viele gemeinnützig sind.

Letztes Jahr hat OVD-Info über Crowdfunding Rekordeinnahmen von über 500.000 Euro gemacht. Was kommt als Nächstes?

Wir versuchen unser Publikum weiter zu vergrößern und OVD-Info nachhaltig zu machen. Die Risiken wachsen jede Woche und die einzig passende Antwort darauf ist noch mehr Unterstützung. Wir überlegen, mit anderen Ländern zusammenzuarbeiten. Rechtspopulismus ist ein weltweiter Trend und wir haben große Expertise in diesem Feld.

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