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Journalismus in Corona-ZeitenDie neuen Betroffenen

Gastkommentar von Jagoda Marinić

Plötzlich nehmen deutsche Journalist*innen die Perspektive von Betroffenen ein. Beim Thema Rassismus ist sie verpönt.

Selbst erlebt: Homeoffice mit Homeschooling: Corona-Betroffenheitstexte sind plötzlich glaubwürdig Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa

W enn man Texte über Migration oder Rassismus schreibt, sagen Deutsche ohne Migrationshintergrund gerne mal zu „betroffenen“! Autor*innen: Ihr seid Betroffene, das merkt man euren Texten (leider) an. Werdet erst mal die Wut los, lauft um den Block, es hat noch keiner wütend einen guten Text geschrieben. Sachlich, sachlich. Unaufgeregt! Selbst nach Hanau, nach den Morden an Unschuldigen, kommen Leute auf die Idee, zu sagen: Warte lieber kurz, lass etwas Zeit vergehen, nicht dass du zu emotional schreibst, wäre doch schöner mit ein bisschen Luft, so ein unaufgeregter Text über das alles.

Ich weiß in einem solchen Moment: uns trennen Welten. Es ist nicht „ein Thema“ für mich. Es ist ein Erinnerungsgewebe, zahllose Momente in diesem Land, in denen Einwanderer und ihre Nachfahren zu spüren bekommen haben: Der migrantische Körper steht leicht zur Disposition. Selbst ein rassistisches Töten wie in Hanau kann in kürzester Zeit vergessen werden. Wir haben ja jetzt Covid-19, die unser aller Körper bedroht. Das macht ja alle wieder gleich, oder nicht?

Vor Hanau stieß mir diese Haltung selten auf. Ich dachte: Ja, warum sollte sich gerade meine Wut in irgendeine Textform ergießen dürfen? Ich habe diese Überheblichkeit, die man auch als „silencing“ bezeichnen könnte, unaufgeregt geschluckt und gedacht: Vielleicht machen die Deutschen ohne Migrationsgeschichte das wirklich kühler und besonnener. Sie werden, warum auch immer, den besseren Text schreiben. Sie werden ihn mit Fakten anreichern, ihre Meinungen besonnen belegen, sie sind ja meist gutmeinende Linke – daher so nah am Betroffensein, wie es nur geht und trotzdem distanziert genug, um objektiv zu schreiben. Was habe ich, außer meiner Fassungslosigkeit über gesellschaftlich akzeptierten Rassismus, der sich in Morden niederzuschlagen weiß in diesem Land?

Doch jetzt, in Zeiten von Corona, sehe ich, wie deutsche Journalist*innen ohne Migrationshintergrund permanent ihre alltäglichen Situationen und Erfahrungen zum Thema machen: Ihr Homeoffice, ihre Beziehung, ihre Kinder, ihre Überforderung wird zur Grundlage der Kritik an den familienpolitischen Maßnahmen der Regierung. Care-Arbeit meint plötzlich nicht mehr den sachlichen Artikel, bei dem ein paar Betroffene und Expert*innen zum Thema Sorgearbeit angehört werden, nein! Man sitzt selbst in der Wohnung und erlebt die Situation, über die man schreibt, tagtäglich.

Bild: imago/Jürgen Heinrich
Jagoda Marinić

ist Autorin und Kolumnistin. Bei S. Fischer erschien soeben ihr Buch SHEROES – Neue Held*innen braucht das Land. Sie twittert zum Zeitgeschehen unter @jagodamarinic.

Die Artikel zum Thema häufen sich, aus dem Makel Betroffenheit wird Glaubwürdigkeit: Sie wissen, wovon sie reden! Ich sehe, wie die Wut der Corona-Eltern, vor allem der Mütter, sich steigert und plötzlich selbst die besonnensten Stimmen ausfällig werden. Ich denke: Aha, schön, die Wütenden sind da. Sie wollen etwas, weil es wehtut, täglich wehtut. Du wachst auf, und trotz deiner Empörung ist alles wie gestern. Letztlich ist Politisierung ja auch ein Moment, in dem Welt wehtut und man diesen Schmerz nicht akzeptieren will.

Plötzlich ist Schluss mit halbmüden Aussagen wie: „Interessant, das könnten wir mal näher beleuchten!“ Und dann wird es verschoben. Nein, jeden Tag bekommt man jetzt zu spüren, wie wenig die eigenen Erfahrungen wahrgenommen werden. Man darf plötzlich als Expertin in Talkshows, endet aber letztlich als Betroffene im Talk, obwohl man neben der Betroffenheit noch ganz viel Wissen erarbeitet hat, weil man eben journalistisch arbeitet, aber das Wissen wird neben dem Betroffensein nicht mehr wahrgenommen.

Erfahrungswissen als Makel

Ich habe da kein Problem damit, im Gegenteil: Das Erkenntnisinteresse wird von Erfahrungswissen genährt. Nur für Menschen mit Migrationsgeschichte wird es oft zum Makel. Nun lese ich zwischen den Zeilen vieler familienpolitischer Artikel eine unbändige Wut und Ungeduld heraus. Im Migrationsbereich hieße das schnell: Hier überschreiten Sie gerade die Schwelle zum Engagement. Sie sind Journalistin, nicht Aktivistin! Wenn Mütter und Väter in diesen Zeiten Journalist*innen sind und die Missstände persönlich beschreiben, sind sie jetzt Corona-Eltern-Aktivist*innen?

Ach woher, werden sie entgegnen – solche Texte sind gewiss kein Engagement! Die Haltung der Schreibenden erzählt lediglich von der Auseinandersetzung mit der Gerechtigkeitsfrage, die man eben aus erster Hand kennt. Bei Menschen mit Migrationgeschichte kommt hingegen schnell die Frage: „Haben Sie Zahlen für Ihre Behauptungen oder nur Erfahrungen?“ Es gibt nicht immer die Zahlen, die man braucht, weil Zahlen, die beim Argumentieren helfen würden, hierzulande teilweise nicht erhoben werden. Corona-Eltern haben jetzt zum ersten Mal dasselbe Problem: Die Zahlen, auf die sie sich stützen könnten, sind noch nicht belastbar genug, die Daten zu mager. Man kann die Beschwerden mit einer einfachen Rückfrage aushebeln: „Vielleicht ist das nur Ihr persönliches Empfinden?“

In vielen Bereichen, in denen Missstände für Menschen mit Migrationsgeschichte herrschen, gibt es keine belastbaren Daten. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen wird zum Beispiel nicht vermessen: Man möchte ja nicht rassistisch sein und zum Beispiel Moderator*innen der Ethnie nach sortieren, das ginge, gerade wegen der deutschen Vergangenheit, nicht. Die Neuen deutschen Medienmacher*innen haben für den Print-Bereich diesen Missstand einmal behoben, und es zeigt sich: Nur 6 Prozent der Chefredakteur*innen haben einen Migrationshintergrund. Viele hätten das aber auch über einen persönlichen Zugang erzählen können, weil wir ständig Texte abliefern bei Menschen, die unsere Perspektiven eben nicht kennen und sie exotisieren, weil auch sie nicht aus der Homogenität ihrer Erlebniswelt herauskommen.

Die Pandemie macht auch Milieus zu Betroffenen, die es nicht gewohnt sind, in diesem Ausmaß persönlich betroffen zu sein. Darum hört man jetzt oft: Jedes Leid muss seinen Platz haben. Man darf die Härten des Lebens nicht gegeneinander aufwiegen. „Wohlstandsprobleme“ sei ein hässliches Wort. Dabei werden Probleme immerzu gegeneinander aufgewogen. Jene, die an der Macht sind, haben das Privileg, über die Relevanz von Themen zu entscheiden. Oder zum Beispiel darüber, in welcher Haltung man über Themen schreiben sollte. Sie entscheiden, ab wann ein Text „zu betroffen“ klingt, weil Emotion spürbar ist. Sie vergessen dabei zu oft den Erkenntnisgewinn durch diese Emotionen.

Corona ist eine Lehrzeit für den Journalismus. Die Medien lernen Neues über den Umgang mit wissenschaftlichen Ergebnissen und selbstbewussten Akteuren aus der Wissenschaft. Sie könnten auch etwas Neues lernen über das Schreiben aus einer Situation heraus, von der man täglich betroffen ist, die einen unversöhnlich und beharrlich werden lässt, ohne gleich aktivistisch zu sein.

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3 Kommentare

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  • Möglicherweise ist es ein Unterschied, ob man der Gesellschaft einen 'systemischen und strukturellen' -ismus vorwirft - eine sehr weitreichende These, die sich nicht aus einer Einzelerfahrung ableiten läßt, sondern allenfalls durch datengestützte empirische Sozialforschung -, und der Kritik von Eltern im Homeoffice an der Familienpolitik der Regierung.

    Guter Journalismus sollte zu zweierlei in der Lage sein: Zu kritischer Distanz (kombiniert mit Sachkenntnis) und zu Empathie. 'Empathie' - vergessen wir nicht diese grundlegende menschliche Kapazität, die sogar Artgrenzen zu überschreiten in der Lage ist. Sie ist im Prinzip auch in der Lage, Geschlechtergrenzen oder ethnische Grenzen zu überbrücken. Der deutsche Kapitalist Engels beschrieb die Not der englischen Arbeiterklasse, der spanische Dominikaner Las Casas prangerte die Zerstörung der Indios in Lateinamerika an.

    Wir können ein Gemälde erst dann voll würdigen, wenn wir nicht nur den einzelnen Pinselstrich und das Farbpigment aus nächster Nähe in Augenschein nehmen, sondern auch indem wir einige Meter zurücktreten, um das Bild als Ganzes auf uns wirken zu lassen. Wenn wir dann noch etwas Sachkenntnis über die Entstehungsgeschichte des Gemäldes etc. haben - um so besser.

    Die Stimme einer unmittelbar Betroffenenen kann ohne Zweifel einen wichtigen Beitrag zur Beleuchtung eines Problemes liefern - umgekehrt ist sie ist aber auch nicht der Generalschlüssel zu 'gutem Journalismus'. Denn die Wahrnehmung eines einzelnen kann z.B. ideologisch verzerrt und verfälscht sein: es ist dann keine 'reine, ursprüngliche' Erfahrung, sondern Erfahrung durch das Medium einer Ideologie hindurch.

  • Danke für diesen Beitrag, Frau Marinic!

  • In dieser Corona-Zeit hat der deutsche Journalismus gezeigt, wo er sich befindet. Ganz unten, um einen Buchtitel von Günter Wallraff zu zitieren. Die Ich-Reportagen sind ein Kennzeichen bürgerlicher Berichterstattung, die mir zum ersten Mal, bei dieser merkwürdigen Schreiberin Esther Knorr-Anders aufgefallen ist. Sie verwandelte in der "Zeit" einen banalen Reisebericht über eine Zugfahrt durch die DDR nach Westberlin in eine gefühlige aber strikt antikommunistische Kampfreportage, die eines Hans Zehrer in der "Welt" würdig war. So geschehen im Jahr 1974. Das machte dann Schule. Je mehr die Zeitungen sich von der politischen Manipulation durch ihre Herausgeber entfernten, weil diese pleite gingen, mit Ausnahme von Axel Cäsar Springer, desto mehr machte sich die marktkonforme Berichterstattung breit. Diesen Konflikt kannten die Lokalzeitungen natürlich nicht. Da wurde direkt die Berichterstattung zur Hofberichterstattung. Nehmen wir den Herrn Oberkreisdirektor des Landkreises Goslar und nennen ihn Herrn Dr. Schnüller. Die für ihn zuständige Hofberichterstattung heißt "Goslarsche Zeitung". Der Fotograf erzählte mir einmal im Gespräch, dass der Herr Dr. Schnüller darauf besteht nur von einer Seite fotografiert zu werden; wenn zufällig nicht seine "Schokoladenseite" in der Presse zu sehen ist, dann ruft er in der Redaktion an und veranstaltet einen Aufstand.

    Tja, die Provinz. Doch der Provinzialismus hat sämtliche Zeitungen und Medien dieses Landes fest ergriffen. Wir haben über Monate hinweg erlebt, wie die Medien allein die "Schokoladenseiten" der Regierung hymnisch priesen und sich in der Steigerung der grundgesetzwidrigen Maßnahmen gegenseitig überboten. Es gab regelrechte Maiandachten, die zwar weniger der Mutter Gottes gewidmet waren, sondern eher den Ersatzgottheiten aus Bundesregierung und RKI. Aber so etwas ermüdet den Leser schnell, deshalb rankte man unendliche Coronageschichten um diese Säule der "unabhängigen" Presse. Siehe obigen Artikel.