Johnson und May: Wie Tag und Nacht
Was Boris Johnson von seiner glücklosen Vorgängerin Theresa May unterscheidet. Und was sie gemeinsam haben.
In der ersten Umfrage lag May um 17 Prozentpunkte vor Johnson, der eigentlich, da Referendumssieger, als gesetzt galt. Der Rest ist Geschichte: Johnson zog überraschend zurück, May wurde im Juli 2016 ohne Wahl inthronisiert – und jetzt, drei Jahre später, geht sie zerschlagen vom Feld, und Johnson triumphiert.
Mit dem Wechsel in 10 Downing Street am 24. Juli 2019 greift die Brexit-Fraktion, die sich 2016 nach ihrem Sieg beim Volk selbst um den Sieg im Staat gebracht hatte, verspätet nach der Macht. Sie will brachial nachholen, was sie damals versäumte. 2016 hatte Boris Johnsons Rückzieher in letzter Minute hämische Kritik in Europa geerntet: Der Ober-Brexiteer weigere sich, Verantwortung zu übernehmen und die „Suppe auszulöffeln“, hieß es damals.
2019 kritisieren die gleichen Europäer Boris Johnson nun empört dafür, dass er Verantwortung übernimmt und den Brexit durchziehen will, koste es, was es wolle. Es scheint, als merke man erst jetzt, dass Großbritannien tatsächlich dabei ist, die EU zu verlassen. Als wären die drei Jahre Theresa May mit ihren ständigen Brexit-Verhandlungen und parlamentarischen Psychodramen nur Show gewesen, ein Eiertanz um die Quadratur des Kreises.
Wie Tag und Nacht
Johnson statt May ist aber mehr als ein Politikwechsel. Es ist ein Stilbruch. Boris Johnson setzte sich bei den konservativen Abgeordneten und Parteimitgliedern vor allem durch, weil er das Gegenteil von Theresa May verkörpert. Sie war verschlossen, undurchsichtig, kleinkariert, brav, treu. Er ist expansiv, unbekümmert, abenteuerlich, spontan, unzuverlässig.
Sie war kulturell ein Produkt des englischen Dreiecks aus Bourgeoisie, Kirche und Sicherheitsestablishment, Tory bis ins Mark, getrimmt auf Anstand und Pflichtgefühl, zu Hause in einem Land, wo jeder seinen Platz hat und da auch bleiben soll. Er ist ein Geschöpf der aristokratischen Elite, irrlichternd global, unbekümmert auf den eigenen Vorteil bedacht, zu Hause in einer Welt, die man selbst nach Gutdünken gestaltet und in der Regeln nur für die anderen da sind.
Der erste Eindruck ist denn auch wie Tag und Nacht. Theresa May im Parlament ist eisiger Nieselregen, Boris Johnson ist tropischer Blitz und Donner. Johnson steht über den Dingen, May gibt sich wie von ihnen zermalmt.
May kam an die Macht unter dem Beifall der Öffentlichkeit, als Gesicht des Bewährten und als ruhige Hand in unsicheren Zeiten; Johnson übernimmt sein Amt in einem Hagel der Skepsis, mit dem Image eines gedopten Rennfahrers, der in Reaktion auf einen geplatzten Reifen aufs Gaspedal drückt, um schneller anzukommen.
Große Gemeinsamkeiten
Dennoch haben May und Johnson viel gemeinsam. Sie können beide kompromisslos und brutal agieren – niemand, der das nicht kann, schafft es ins Amt des Premierministers. Ihre Pläne sind selbst für ihr jeweiliges politisches Umfeld ein Rätsel. Und: Geringschätzung und Hochachtung liegen in den Urteilen über sie so eng beieinander, dass sie zuweilen verschmelzen.
Über Theresa May schrieb zwei Monate nach ihrem Amtsantritt der kluge Financial-Times-Kommentator Janan Ganesh: „Wenn ihre Ideen den Wählern signalisieren, dass Frau May sich gegen liberale Konventionen stellt und Sehnsucht nach dem Leben in einer nicht näher definierten Vergangenheit hat, dann helfen sie ihr, denn das ist ihre politische Identität, und das ist die nationale Stimmung. Ihre Politik ist seicht und kann noch seichter werden – der daran geknüpfte Sinn ist das Wesentliche. Alles, was sie in ihren ersten Monaten getan hat, transportiert Stärke und Eneuerung, ohne tatsächlich viel zu verändern. Es gibt tiefgründigere Geister und bessere Redner, bei jedem Thema könnte sie inhaltlich ein Desaster erleiden – aber in einer vermutlich nicht erlernbaren Weise versteht Frau May Politik. Sie weiß, dass politischen Handlungen eine symbolische Kraft innewohnt, jenseits der technischen Vorzüge.“
Peter Oborne, ehemaliger Journalistenkollege Johnsons
Anders gesagt: Der Auftritt zählt bei May mehr als das Ergebnis – eine Beschreibung, die derzeit eher auf Boris Johnson angewandt wird. Über diesen schrieb jetzt im Daily Mail Peter Oborne, einer der spitzzüngigsten Beobachter der Londoner Politik und ehemaliger Journalistenkollege Johnsons in dessen Zeit als Chefredakteur des Wochenmagazins Spectator:
„Seit Jahrzehnten wusste ich, dass Boris Johnson Premierminister werden würde. Viele haben ihn als Clown und Scharlatan belächelt. Das war meistens Neid. Seine politischen Rivalen neideten ihm seine Intelligenz, seine Anziehungskraft auf die Massen, sogar seine Erfolge bei Frauen. Hinter den großen Tönen steckte immer Brillanz. Boris konzentrierte sich auf die großen Linien, er war offen, liberal und international. Viele Premierminister – Theresa May und Gordon Brown sind dafür bekannt – hassen es, Verantwortung zu delegieren. Sie bestehen darauf, ihr Büro zu mikromanagen. Boris’ fröhliche Fähigkeit, andere die Arbeit machen zu lassen und sie auch die Lorbeeren dafür einheimsen zu lassen, ist enorm attraktiv. Es ist auch eine viel bessere Art, das Land zu regieren.“
Was am Ende rauskommt
Dennoch warnt er: „Boris Johnson ist ein Mann, der es liebt, geliebt zu werden. Wenn er in Downing Street ist: Wird er stark genug sein, sich reichen Parteispendern und mächtigen internationalen Unterstützern entgegenzustellen? Er wird eine Reihe von Entscheidungen von überragender Bedeutung treffen müssen. Das bedeutet, sich Feinde zu machen. Und Boris macht sich nicht gern Feinde.“
Anders gesagt: Boris Johnson wird am Ende am Ergebnis gemessen werden, nicht am Auftritt. Das ist ein Risiko, denn bisher steht er für das Gegenteil. Den Auftritt kennt man bereits. Das Ergebnis kennt keiner, nicht einmal Boris Johnson selbst.
Er weiß, er muss Unmögliches schaffen. Entweder ringt er der EU einen neuen Brexit-Deal ab, der im eigenen Parlament mehrheitsfähig ist, oder er steuert erfolgreich einen No-Deal-Brexit durch ein mehrheitlich feindliches Parlament – oder er ist weg vom Fenster, viel schneller als Theresa May. Der Weg dahin führt möglicherweise über Neuwahlen, noch bevor es Klarheit über den Brexit gibt. Dann wird es doch wieder auf den Auftritt ankommen.
Wie man Wahlkampf nicht führt, hat Theresa May 2017 vorgemacht, als sie entgegen ihren bisherigen Versprechen Neuwahlen ansetzte, auf die ihre Partei nicht vorbereitet war, aber in den Umfragen schien sie uneinholbar vorne zu liegen. Am Ende büßte sie ihre absolute Mehrheit ein.
Johnson wird abheben
Die Gründe waren ein chaotisch improvisierter Wahlkampf, ihr Hang zu Geheimniskrämerei sogar gegenüber dem eigenen Kabinett, ein Wahlprogramm voller unabgesprochener und unpopulärer Ideen und die völlige Unfähigkeit zur Kommunikation mit der Wählerschaft. May verstrickte sich heillos in den eigenen Fehlern und schaffte es, einen drögen Jeremy Corbyn wie einen Visionär aussehen zu lassen. Sie hat sich davon politisch nie erholt.
Hohe Posten in der neuen Regierung
Man darf davon ausgehen: Ein Wahlkampf mit Boris Johnson wird das genaue Gegenteil sein: straff organisiert wie schon sein parteiinterner Wahlkampf, mit dem ständigen Drang an die Öffentlichkeit und ein paar einfachen großen Linien als Programmatik, denen kaum jemand grundsätzlich widersprechen kann. Er hat das bereits in seiner Regierungserklärung formuliert und ein leuchtendes Bild von Großbritannien im Jahr 2050 entworfen: „grün, sauber, geeint, wohlhabend und ambitioniert“. Johnson wird permanent abheben, damit jede Kritik als kleinkariert daherkommt. Ob das klappt? So oder so: Großbritannien steht ein heißer Herbst bevor.
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