Jobsuche bei Menschen mit Behinderung: Ein Ordner voller Absagen
Für Menschen mit Behinderung ist die Jobsuche auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt oft frustrierend. Die gesetzliche Pflicht zur Inklusion reicht nicht.
![Jörn Neitzel sitzt vor einem Ladenlokal in Bremen. Jörn Neitzel sitzt vor einem Ladenlokal in Bremen.](https://taz.de/picture/4838022/14/194669494-7ceee3104c-1.jpeg)
Es ist eine Normalität, über die Neitzel glücklicher nicht sein könnte: Er hat einen Job. Seit Oktober letzten Jahres arbeitet Neitzel als Auszubildender zum redaktionellen Mitarbeiter, seitdem hat er einen eigenen Schreibtisch und verfasst barrierefreie Texte für die Bremer Kommunikationsagentur „selbstverständlich“. Doch das war lange anders.
„Ich war 20 Jahre lang arbeitslos“, erzählt der 44-Jährige. Von Geburt an hat Neitzel eine Spastik, in seinen Bewegungen ist er stark eingeschränkt und sitzt im Rollstuhl. Nach seiner Ausbildung zum Bürokaufmann hatte er sich zwei Jahrzehnte lang auf Stellen auf dem freien Markt und im öffentlichen Dienst beworben – ohne jeden Erfolg. „Irgendwann habe ich mich auch gefragt: Braucht mich die Gesellschaft überhaupt?“, sagt Neitzel. „Es ging mir ja nicht darum, das große Geld zu verdienen. Aber ich wollte nicht den ganzen Tag zu Hause sitzen – das war für mich nicht der Sinn des Lebens.“
So wie Neitzel ging und geht es in Deutschland vielen Menschen mit Behinderung. Nur knapp jeder Dritte der rund zehn Millionen Menschen mit Behinderung in Deutschland ist laut Daten des Statistischen Bundesamtes derzeit berufstätig. Zum Vergleich: Bei Menschen ohne Behinderung sind es mit 65 Prozent im Verhältnis rund doppelt so viele.
Jörn Neitzel, Bürokaufmann
Bereits 2009 hatte die Bundesregierung die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, die unter anderem eine gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsmarkt fordert. Der Bremer Landesbehindertenbeauftragte Arne Frankenstein glaubt, dass Bremen seitdem zwar „schon erhebliche Schritte in Richtung einer inklusiven Gesellschaft“ gemacht habe. „Aber wir stehen immer noch am Anfang einer Entwicklung.“
Frankenstein sieht vor allem im Übergang von den Schulen auf den Arbeitsmarkt ein großes Problem. „Es darf keinen Automatismus geben, dass Menschen mit Beeinträchtigungen dann nur Angebote aus Behindertenwerkstätten nutzen“, so Frankenstein.
Wie schwer es ist, aus diesem Automatismus auszubrechen, hat auch Laura Ellinghaus erlebt. Sie arbeitet heute am Empfang des Bremer Martinclubs, einem Verein, der Menschen mit Behinderung begleitet und betreut. Doch ihr Weg zu dieser Teilzeitstelle im allgemeinen Arbeitsmarkt gestaltete sich schwierig – trotz Realschulabschluss und abgeschlossener Ausbildung zur Fachkraft für Bürokommunikation. „Gerade behinderte Menschen müssen auf dem Arbeitsmarkt noch einen dickeren Dickschädel haben als andere,“, sagt die 25-Jährige.
Nach ihrem Schulabschluss in Bremen-Nord habe sie sich alleine gelassen gefühlt. Vom Arbeitsamt habe sie direkt die Empfehlung bekommen, zum Berufsbildungswerk für Menschen mit Behinderung zu gehen. Das habe sie frustriert – denn sie habe zwar eine Körperbehinderung, aber könne trotzdem lesen, rechnen und schreiben wie jede andere auch. Ellinghaus lebt von Geburt an mit einer Rückenmarkserkrankung, an manchen Tagen ist sie auf ihren Rollstuhl angewiesen. „Das ist meine Realität“, sagt sie. Doch mit dieser Realität seien viele Arbeitgeber:innen auch heute noch überfordert.
„Ich habe zu Hause einen Ordner mit Absagen“, sagt Ellinghaus. Alleine im letzten Jahr habe sie 80 Bewerbungen geschrieben, oft hätten Unternehmen ihr direkt abgesagt – selbst wenn in den Stellenausschreibungen vermerkt war, dass Menschen mit Behinderung bevorzugt eingestellt werden. „Teilweise war dann dieselbe Stellenausschreibung zwei Wochen später wieder online“, sagt Ellinghaus. Die konkreten Gründe für die Absagen habe sie nie erfahren – nur, „dass schon jemand anderes gefunden wurde“.
Dabei sind in Deutschland Unternehmen gesetzlich dazu verpflichtet, Menschen mit Schwerbehinderung einzustellen: Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigten müssen laut Sozialgesetzbuch mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit Menschen mit Behinderung besetzen. Und auf den ersten Blick scheint die Wirtschaft auf einem guten Weg zu sein: So erreicht die Beschäftigungsquote von Menschen mit Schwerbehinderung in Deutschland mit 4,6 Prozent bereits fast das gesetzliche Minimum, wie das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft schreibt.
Ausgleichsabgaben statt Inklusion
Bei näherem Hinsehen sieht die Inklusion in Unternehmen weniger erfolgreich aus: Auch wenn die Fünf-Prozent-Quote erreicht wäre, hätten längst nicht alle potentiellen Arbeitnehmer:innen mit Schwerbehinderung eine Stelle – die Quote ist dafür nicht hoch genug. Und mehr als die Hälfte der 130.000 Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten unterschreiten die geforderte Beschäftigungsquote, rund ein Viertel von ihnen haben gar keinen Menschen mit Schwerbehinderung eingestellt.
Stattdessen zahlen diese Unternehmen lieber eine Ausgleichsabgabe von bis 320 Euro monatlich je unbesetztem Pflichtarbeitsplatz. „Für diese Betriebe sollte die Ausgleichsabgabe erhöht werden“, so Frankenstein, „um die Erwartungshaltung deutlich zu machen, dass es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt, die Teilhabe am Arbeitsleben sicherzustellen.“
„Viele große Unternehmen entziehen sich da ihrer Verantwortung“, sagt Jörn Neitzel. Umso glücklicher ist er darüber, nach rund zwei Jahrzehnten Jobsuche endlich ein Unternehmen gefunden zu haben, das ihn mit seiner körperlichen Beeinträchtigung eingestellt hat. „Hier kann ich mich weiterentwickeln“, sagt er. Neitzel fährt ein Stückchen näher an seinen Schreibtisch heran, an seinem Computer öffnet er die Aufgabenliste von heute. Es gibt noch einiges zu tun.
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