: Jenseits der Norm
Technik Die Geschichte des Radfahrens ist eine Geschichte von Widerständen – aber auch von Überwindungen, etwa durch die individuelle Anpassung des Rads
von Gunnar Fehlau
Das Leiden fängt beim Radfahren lange vor dem Sport an. Böse Zungen könnten sogar behaupten, bei jedwedem Fahrradfahren sei das Leiden immanent. Kein Radfahrer, der nicht schon einmal von tauben Genitalien zu berichten wusste. Keine Radfahrerin, der nicht schon einmal der Hintern oder die Handgelenke schmerzten. Es sind aber die unverwechselbaren Erlebnisse beim Radfahren, die die Pein vergessen machen. Leidenschaft im besten Wortsinne.
Die Geschichte des Fahrrads ist eine Geschichte des Kampfs gegen den Schmerz. Und wenn der Schmerz behoben scheint, tritt man einfach wieder kräftiger oder länger in die Pedale – und schon ist der Schmerz wieder da. Der Radsport bezieht seinen Mythos weitgehend aus diesem Narrativ.
Die Geschichte des Fahrrads ist eine Technikgeschichte. Die Geschichte der Versuche und Erfolge, diesen Schmerzen ein Ende zu bereiten. Der Haken daran ist, dass alle Menschen verschieden sind. Jeder hat seine eigenen ergonomischen Besonderheiten und seine eigene Bewegungsvita. Es gibt keinen Menschen, der nicht seine besonderen Voraussetzungen mitbringt, die fürs genussvolle und schmerzfreie Radfahren von Relevanz sind. Es fällt schwer, an dieser Stelle den Begriff der Normalität einzuführen. Denn damit wären wir mitten in der Inklusionsdiskussion. Aber wird die nicht auch schon beim Thema Radfahren geführt? Welche Helfer sind zulässig, um eine partielle Schwäche auszugleichen? Mit welcher Ausstattung lassen sich Handicaps effektiv begegnen? Und darf dieser technische Zugewinn nur bis zum kompensierenden Ausgleich eingesetzt oder doch bis zu einem persönlichen Vorteil aufgestockt werden? In dem einen Falle gilt die Technik als gut: Weil sie Menschen die Beweglichkeit zurückbringt. In anderen Fällen soll sie schlecht sein: Technisches Doping! So wird verständlich, warum mancher klassische Radfahrer allergisch reagiert, wenn ein E-Biker bergauf entspannt an ihm vorbeizieht.
Zurück aufs Rad und damit zum Schmerz. Der ist sehr individuell: Was dem einen die Tränen in die Augen treibt, ist für andere mühelos auszuhalten. Im Kampfsport spricht man von „Nehmerqualitäten“. Aber die Motivation, Schmerzursachen tilgen zu wollen, ist schon immer ein Quell vieler Innovationen gewesen. Die Schaltung, die Luftbereifung, ja sogar – mit Blick auf die schmerzhaften Stürze von Hochrädern herunter – das Rover Safety Bike von 1895, der Urahn des modernen Fahrrads: alles Erfindungen zur Schmerzreduktion.
Die ergonomischen Optionen sind mittlerweile so groß, dass die individuellen Wünsche von wahrscheinlich 80 Prozent aller Radfahrer hinreichend abgedeckt werden könnten. Wobei die Optionen sowohl Produkte wie Dienstleistungen umfassen. Nicht selten fusionieren beide zu einem Gesamtpaket. So etwa bei der Firma „gebioMized“ aus Münster. Hier werden individuelle Daten von Radfahrern erhoben, auf deren Basis unter anderem individuelle Sättel und Schuhsohlen gefertigt werden. Zusammen mit dem Lenker bilden Sattel und Pedale das „ergonomische Dreieck“, womit die Übergangspunkte zwischen Mensch und Maschine gemeint sind. Ihre förmliche Ausgestaltung und Position bestimmt den Komfort auf dem Rad. Dieser Anpassungsprozess wird als „Bike Fitting“ bezeichnet. Manches Fachgeschäft bietet dies nebenher an, es gibt aber auch Spezialisten, die nicht mehr mit Rädern handeln, sondern mit den Einstellungsdaten.
Wer hingegen nicht in die Normen dieser Bike-Fitting-Welt passt, der hat einen deutlich komplizierteren Weg zum schmerzfreien Radeln oder überhaupt zur Benutzung eines Fahrrads. Für kleingewachsene Menschen gibt es spezielle Anbieter wie etwa Juliane Neuß oder Thomas Veidt. In vielen Fällen erweist sich die Haltung auf dem Rad als grundsätzlich problematisch, dann sind Liegeräder die Lösung. Hier haben sich Firmen wie Hase Bikes oder HP Velotechnik in den vergangenen Jahren verdient gemacht. Sie bieten Zwei- und Dreiräder für Menschen mit unterschiedlichsten Handicaps an. Adaptives Zubehör erlaubt die dynamische Anpassung an Krankheitsverläufe und ermöglicht Reha-Erfolge. Allerdings: Nicht selten findet sich die technische Lösung schnell, aber der zügige Umstieg aufs individuell ideale Rad wird be- oder verhindert, weil Krankenkassen und Ämter sich mit der Unterstützung dieser Unikate schwertun.
Nicht nur deshalb ist es ratsam, für individuelle Bedürfnissen spezialisierte Geschäfte aufzusuchen. Mag denen häufig auch das gekünstelte Marketing fehlen, dafür haben sie den professionellen Überblick: Sie informieren, wo auf diesem Planeten welche Kleinstfirma was für welche Spezialitäten im Angebot hat und wie finanzielle Unterstützung eingeholt werden kann. Eine gute Basis, um aufs richtige Velo zu kommen und Radfahren schmerzfrei genießen zu können.
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