Jenseits der Geschlechtergrenzen: Odyssee zu sich selbst
Aline de Oliveira hat so lange versucht, als Mann zu leben, bis sie nicht mehr weiter konnte. Doch je weiblicher sie wurde, desto größer war die Ablehnung.
Ronies Vater, der lange beim Militär gedient hat, besitzt einen Laden für Schiffszubehör. Dann gibt es noch zwei Brüder, drei und sechs Jahre älter. Als die Mutter erneut schwanger wird, wünscht sie sich, es möge diesmal ein Mädchen sein. Ein Wunsch, der sich – zunächst – nicht erfüllt.
Als Kind, so hat Alines Mutter ihr berichtet, habe sie sich immer schon ihre Klamotten und ihre Schminke ausgeborgt. Sich als Mädchen zurecht gemacht. Der Vater hat dafür kein Verständnis. Im Männerbild des ehemaligen Luftwaffenoffizier hat dieses „Weibische“ keinen Platz. Es setzt Prügel. Ronie soll zu einem „richtigen Mann“, erzogen werden. Da passen keine Frauenkleider.
Im Alter von zehn Jahren dann die erste Zäsur. Ronie wird in einen schweren Autounfall verwickelt. Fast vier Monate liegt er im Koma. Die Ärzte kämpfen um sein Leben. Als Ronie endlich wieder zu Bewusstsein kommt, ist er verwirrt. „Ich war mir absolut sicher, dass ich ein Mädchen bin und schon immer war.“ Auch wenn der Blick auf seinen Körper ihn eines Besseren belehrt.
„Transparência 2019“, ab 14. Juni, jeweils 20 Uhr, Theater Lüneburg
Zwei Jahre später, im Biologieunterricht, begreift Ronie, dass er biologisch ein Mann ist. „Bis dahin hatte ich die Fantasie, mein Genital würde irgendwann abfallen und darunter eine Vagina zum Vorschein kommen.“ Als er erkennt, dass das nicht passieren wird, rennt der Zwölfjährige von der Schule weg und weint. „Mir wurde noch einmal bewusst, dass ich als Mädchen fühle, aber ich versuchte dann zu akzeptieren, dass ich ein Junge bin und als Mann leben werde.“
Doch dann öffnet sich ein kleiner Spalt in eine andere Sphäre. Nach dem Unfall muss Ronie neu lernen, sich zu bewegen. Dafür verordnet ihm seine Physiotherapeutin, die auch gleichzeitig Ballettlehrerin ist, Ballettunterricht. Außer ihm sind nur Mädchen in den Ballettstunden. „Da hat sich mir eine Welt eröffnet, die bald ganz die meine war. Ich habe gelernt, meine biologische Rolle im klassischen Ballett zu leben, in Rollen, die eben ganz eine männliche körperliche Präsenz erforderten. Meine Lehrerin war sehr begeistert von meiner Körperflexibilität und mir war schnell klar, dass ich Tänzer werden wollte.“
Der einzige Junge, der zum Ballett geht
In der Schule wird Ronie gehänselt. Er ist der einzige Junge, der lange Haare hat, während seine Mitschüler an den Seiten ganz kurz rasierte Haare tragen. Er ist der einzige Junge, der zum Ballett geht, der einzige Junge, der immer mit den Mädchen abhängt. Zu Hause setzt es Schläge, weil Ronie sich so feminin gibt. Er verschweigt, dass er weiter zum Ballett geht, sein älterer Bruder deckt ihn: Offiziell ist er mit ihm beim Fußballtraining, während er tanzt.
Doch die Sache fliegt auf. Die Eltern wissen nicht, dass ihr Sohn mit 16 einen Vertrag als Profi-Tänzer erhält. Nur durch Zufall sehen sie einen seiner Auftritte im lokalen Fernsehprogramm. Die Mutter ist stolz, weint vor Freude, der Vater aber baut sich vor Ronie auf und fragt mit bedrohlicher Stimme: „Bist du schwul?“ Die Mutter kommt zur nächsten Premiere, um ihren Sohn tanzen zu sehen, der Vater bleibt demonstrativ zu Hause.
„Er war nie da, wenn ich tanzte, so dachte ich zumindest.“ Erst Jahrzehnte später beichtet der Vater seinem Sohn, dass er immer heimlich in die Vorstellungen gegangen ist, um ihn zu sehen. Voller Scham und voller Stolz. Aline kann diese Geschichte auch heute noch nicht erzählen, ohne dass sich ihre Augen mit Tränen füllen.
Außerhalb des Balletts versucht Ronie, ein ganz normaler Junge zu sein. Einer, der am Sonntag in die Kirche geht und eine Freundin hat. Mit 17 hat er das erste Mal Sex mit einem Mädchen. Das fühlt sich „komisch“ an. „Ich wünschte mir, an ihrer Stelle, in ihrer Haut zu sein.“ Trotzdem lebt er seine Lust weiter mit Mädchen aus, versucht es mit 19 das erste Mal mit einem Mann. Doch das passt nicht. Erst später begreift Ronie, dass er bisexuell ist und wendet sich immer stärker Männern zu.
Die neue Welt von London
Im Alter von 19 hat Ronie das erste Mal ein Gastspiel als Tänzer in London. Für vier Monate. In der europäischen Metropole erschließt sich ihm eine neue völlig neue, bunte Welt. Er kommt mit Transsexuellen, mit Drag Queens, Transvestiten und Cross-Dressern in Berührung. Bisher ist sein Weltbild ganz von der Religiosität seiner Mutter und dem militärischen Denken seines Vaters geprägt, er hat den Glauben, dass der liebe Gott und die Erfahrung, dass die Gesellschaft es nicht akzeptieren, dass er lieber ein Mädchen wäre. Nun erfährt er von Forschungen über Transsexualität, lernt Menschen kennen, die „in between“ sind.
Alles bislang Verdrängte bricht auf. „Mein Weltbild geriet ins Rutschen. Ich begriff langsam, dass ich nicht falsch war, sondern die Gesellschaft, in der es für jemanden wie mich keinen Raum und keine Akzeptanz gibt. Ich erkannte, dass ich nicht mehr in Brasilien leben konnte, in einem Land mit so wenig Toleranz.“ Jahrelang pendelt Ronie zwischen Brasilien und Europa hin und her, hat Engagements in Paris, Lyon und London. Hier verliebt sich Ronie, er ist inzwischen 22, in einen jungen Mediziner. „Er war total aufgeschlossen und wir haben viel über Transsexualität geredet.“
Beim Psychiater in Brasilien
Doch dabei bleibt es nicht. Ronie, der zunehmend unter Stimmungsschwankungen leidet, begibt sich in die Obhut eines Psychiaters, eine Hormontherapie in Brasilien wird geplant und eine gemeinsame Zukunft dort auch. Dann der Schock: Der Geliebte kommt bei einem Autounfall ums Leben. Der Halt ist weg, alles löst sich auf. Alleine, ahnt Ronie, hat er nicht die Kraft, den Weg in sein Wunschgeschlecht anzutreten. Er versucht sich mit Alkohol und Tabletten das Leben zu nehmen. Und wird gerettet. Landet in der Psychiatrie. Und wird von den brasilianischen Psychiatern bekehrt, dass er sein Hirngespinst, als Frau zu leben, endlich vergessen soll. „All meine Hoffnungen waren zerstoben.“
Ronie lernt, seine Rolle als Mann zu spielen. Er arbeitet wie ein Besessener, um sich abzulenken, schläft zu wenig, trinkt zu viel, pendelt, von innerer Unruhe getrieben, weiter zwischen Europa und Brasilien, wirkt immer gut gelaunt, doch hinter der Fassade geben die Dämonen keine Ruhe – Bulimie und Magersucht werden die ständigen Begleiter des Tänzers. Dann scheint eine neue Liebe ihn zu erden. In Hamburg lernt er einen Musical-Regisseur kennen, die Männer verlieben sich, gehen sogar eine „Hamburger Ehe“ ein. Und Ronie wird in der Hansestadt sesshaft, gibt hier Tanz-Workshops.
Doch unter der Oberfläche rumort es. 2014 versucht der Tänzer, der sich inzwischen als ganz normaler schwuler Mann begreift, sich vor eine Einfahrende S-Bahn zu stürzen. Aufmerksame Passanten verhindern den Suizid im letzten Moment. Als Ronie in die Psychiatrie der Eppendorfer Uni-Klinik (UKE) eingeliefert wird, kennt er nicht einmal mehr seinen Namen. Doch im UKE ist er in guten Händen. „Die Psychiaterin hat sofort verstanden, was mit mir los ist. Mein Thema, im falschen Körper zu leben, war wieder an die Oberfläche gekommen.“ Und lässt sich nun nicht mehr zurückdrängen.
Erst Hormone, dann Operation
Unterstützt von den SexualtherapeutInnen des UKE beschließt Ronie, zur Frau zu werden. Erst Hormone, dann Operation. Doch die Folgen dieses Entschlusses sind für den inzwischen 31-Jährigen dramatisch. Sein Mann kann den Gedanken, dass sein Partner eine Frau werden will, nicht ertragen. Ronie fliegt aus der gemeinsamen Wohnung, muss im Park übernachten, bis Freunde ihn aufnehmen, und er schließlich in Hamburg-Harburg eine neue Wohnung findet, in einem von muslimischen Familien und russischen Einwanderern geprägten Wohngebiet.
Hier erlebt Ronie, der durch die Hormone immer weiblicher wird und sich auch immer weiblicher kleidet, keine Toleranz. Auf offener Straße wird er beleidigt, findet Drohbriefe im Briefkasten, wird als „perverser Pädophiler“ beschimpft. Jeder Auftritt in der Öffentlichkeit gleicht einem Spießrutenlauf. „Es war die Hölle, den Bus zu nehmen, und dort ständig angestarrt zu werden. Ich bekam Panikattacken und habe mein Gesicht auch im Sommer unter einer Kapuze versteckt.“
Das Engagement an der privaten Schauspielschule, an der Ronies Ex-Mann finanziell beteiligt ist, endet abrupt. Er braucht Monate, einen neuen Job zu finden. Schließlich arbeitet Ronie als Nachtportier. Kurz vor Ende der Probezeit findet der Besitzer heraus, dass er einen Transsexuellen auf der Lohnliste hat. „Ich wurde gefeuert und fand keinen neuen Job. So war ich gezwungen, mich zu prostituieren, um zu überleben.“ Zuerst als Mann, später als Frau.
Regisseure antworten nicht
Vergebens versucht Ronie, irgendwie an seine Tanzkarriere anzuknüpfen. Er nimmt Kontakt zu den RegisseurInnen und ChoreografInnen auf, die ihn einst für ihre Inszenierungen aus Brasilien geholt haben, erklärt Ihnen in einer Videobotschaft, dass er auf dem Weg sei, sein Geschlecht umzuwandeln, dass aus Ronie nun Aline wird. „Die meisten Choreografen, die mich als männlichen Tänzer so sehr geschätzt haben, haben mir nicht einmal geantwortet. Ich bettelte: Lasst uns diese Androgynität auf die Bühne bringen. Doch niemand konnte mit meinem Angebot umgehen, keiner hatte einen Job mehr für mich. Daran bin ich fast zerbrochen. Ich habe mich gefragt: Wenn ich nicht mehr Tänzer bin, was dann? Mein Entscheidung, in ein neues Geschlecht zu gehen, war gleichzeitig der Abschied vom Tanz.“
Und auch in der Hamburger Schwulenszene rund um St. Georg, in der er mit seinem Mann früher Stammgast war, ist Ronie, dessen Erscheinungsbild durch die Hormone immer weiblicher wird, nicht mehr willkommen. Er wird angefeindet, „kein richtiger Mann“ zu sein, aufgezogen, wenn trotz Laserung immer noch Bartstoppeln sprießen. „Schwule stehen eben nicht auf weibliche Körper. Die Diskriminierung in meinem früheren Freundeskreis wurde immer schlimmer, ich war ständig wirklichen Gemeinheiten ausgesetzt.“
Fetisch in der Schwulenszene
Heute erklärt sich Aline ihre Ausgrenzung damit, „dass transsexuelle Frauen an die hübschen Hetero-Männer rankommen, die ein großer Fetisch in der Schwulenszene sind“. Doch je mehr Ronie zu Aline wird, umso mehr fühlt er, fühlt sie sich hier deplaziert. „Ich musste erst begreifen, dass ich nicht mehr schwul bin und da nicht mehr hingehöre, sondern mich in der Heterowelt bewegen muss – als Frau.“
Das tut Aline heute. Sie ist nach zwei Operationen im vergangenen Jahr am UKE nun auch körperlich eine Frau. Auf die Frage, ob sie sich zu 100 Prozent als Frau fühlt, antwortet sie spontan mit einem „Total!“ Und fügt dann hinzu: „Ich habe diesen Weg noch keine Minute bereut. Meine weibliche Mentalität wird immer stärker. Ich vergesse manchmal, dass ich ein Junge und ein Mann war.“
Aline ist nun eine „transangeglichene Frau“, Ronie ist Geschichte. Als Aline, auf dem Weg vom Mann zur Frau, ihre Ballett-Karriere aufgeben musste, keine Engagements mehr bekam, hat sie vor Frust alle Bilder, alle Videos verbrannt, auf denen sie als Tänzer zu sehen war. Heute bereut sie diesen Schritt, der sie ein Stück von ihrem frühere Leben abschneidet. Und arbeitet daran, wieder auf der Bühne zu stehen. Zusammen mit dem Choreografen Wallace Jones und dem Regisseur Kolja Schallenberg hat sie das „Transparence Theatre“ gegründet, das weltweit erste Tanz-Theater-Ensemble, in dem nur transsexuelle und Enby-KünstlerInnen auf der Bühne stehen sollen. Am 14. Juni wird die erste Inszenierung der Truppe am Lüneburger Theater Premiere feiern, fünf weitere Gastspiele an dem Haus sind geplant.
Nur negative Reaktionen
Doch auch dieser Weg ist steinig. „Wir haben zuvor mehrere deutsche Stadt- und Staatstheater angeschrieben, von denen entweder gar keine oder nur negative Reaktionen kamen“, berichtet Schallenberg. Als das Lüneburger Theater das Gastspiel in sein Programm aufnahm, stellten die Kommunalregierung, die niedersächsische Landesregierung und auch die Niedersächsische Kulturstiftung dem Ensemble die Bewilligung beantragter Fördergelder in Aussicht.
Das Trio fuhr nach London, um transsexuelle SchauspielerInnen, Sängerinnen und TänzerInnen zu casten und für die Aufführungen zu verpflichten. Doch die Fördergelder flossen nie, Begründungen dafür gab es keine. „Ich bedaure Ihnen mitteilen zu müssen, dass der Niedersächsische Theaterbeirat ihr Projekt nicht befürwortet hat“, heißt es etwa in einem Absageschreiben des niedersächsischen Kulturministeriums. Aus Geldmangel musste das Transparence Theatre den gecasteten KünstlerInnen schließlich absagen. Nun wird Aline allein auf der Bühne stehen.
„Die deutsche Theaterlandschaft präsentiert sich gerne als weltoffen und tolerant“, sagt Kolja Schallenberg. „Besonders trans*, enby und intersexuelle Menschen haben aber keinen Platz in der heutigen Theaterlandschaft. Durch die starren Strukturen und die Grenzen in den Köpfen der ‚Macher‘ werden sie nicht berücksichtigt in den Spielplänen oder Besetzungen. Es wird lieber Travestie zur Unterhaltung gezeigt als zeitgenössisch relevante Transthematiken.“
Rückkehr auf die Bühne
Für Aline, die auch gerne als Tanzlehrerin oder Tanzpädagogin arbeiten würde, ist das Transparence Theatre, die Chance noch einmal auf die Bühne zurückzukehren. Theater aus England, Schweden und Norwegen haben Interesse an Gastspielen bekundet und so hofft Aline, dass das Projekt „nicht nach sechs Vorstellungen im Sommer wieder stirbt“. Es habe sie „verletzt, dass dieses in Deutschland geborene Projekt keine Unterstützung findet“.
Wohin ihr Weg führt, weiß Aline nicht. Wenn sie ihren Freund nicht hätte, der sie unterstützt, wo immer er kann, „wäre ich heute noch eine Prostituierte und das Transparence Theatre gäbe es nicht“. Doch Alines Kampf gegen die eigenen inneren Dämonen, der Kampf um die eigene sexuelle Identität und um gesellschaftliche Akzeptanz, der Kampf um ihre Karriere als Tänzerin hat Spuren hinterlassen. „Meine Kraft ist fast verbraucht“, sagt die heute 35-Jährige.
Aber noch lodert die Flamme in ihr, sie braucht nur Nahrung, braucht nur eine Bühne. Und die bekommt sie, wenn sich demnächst der Vorhang in Lüneburg öffnet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül